
Unter dem Begriff Erbschleicherei können sich die meisten Menschen womöglich etwas vorstellen: Personen erschleichen sich hierbei die Gunst und die Zuneigung wohlhabender, oftmals älterer Menschen, lassen sich ins Testament aufnehmen und warten dann auf deren Tod - oder helfen im schlimmsten Fall selbst nach. Doch die deutsche Gesetzgebung bietet potenziellen Tätern so viel Spielraum, dass das Warten auf den Tod gar nicht nötig ist: Sie bringen ihre Opfer durch das Ausstellen von Vorsorge- beziehungsweise Generalvollmachten schon vorher voll und ganz unter ihre Kontrolle und beuten sie aus - alles unter dem Deckmantel des Sich-Kümmerns und zum vermeintlichen Schutz des Vollmachtgebers. Der Missbrauch geschieht oft schleichend, unbemerkt im Verborgenen und ohne jegliche juristische Konsequenzen - teils mit fatalen Folgen für Betroffene und deren Angehörige.
Hildegard Winnebeck ist Rechtsanwältin sowie Gründerin und Vorstand der Initiative gegen Vollmachtmissbrauch e.V. Der Verein ist eine Anlaufstelle für Betroffene und oder deren Angehörige. Die Zahl an Anfragen an die Initiative ist laut Winnebeck groß und wächst stetig. „Vollmachtmissbrauch ist deutlich weiter verbreitet als man meint“, so Winnebeck im Gespräch mit unserer Redaktion. Und dennoch: das LKA in Berlin ist die einzige Polizeidienststelle in Deutschland, die eine eigene Stelle für dieses Thema im dortigen Betrugsdezernat eingerichtet hat. Daher sei es auch schwer konkrete Zahlen zu nennen, denn wenn die Missbrauchsfälle weder angezeigt noch abgeurteilt werden, können Zahlen auch nicht erfasst werden. Doch Winnebeck schätzt, dass es mindestens bei einem Drittel aller ausgestellten Vollmachten zu Missbrauch kommt. Laut der Rechtsanwältin laufe dieser fast immer nach dem gleichen Schema ab: „Gutmachen, Schlechtmachen, Wegmachen“.
Gutmachen
Meist beginnt alles ganz harmlos: Jemand aus dem Umfeld des Opfers - die Bandbreite reicht hier von Zufallsbekanntschaften, Liebschaften, Pflegekräften, Gärtnern bis hin zu Nachbarn oder auch Familienmitgliedern - sucht immer mehr Nähe zum Opfer durch kleine, augenscheinlich selbstlose Handreichungen. Das kann eine Fahrt zum Arzt, die Hilfe beim Einkauf oder die Unterstützung bei behördlichen oder finanziellen Angelegenheiten sein. Hier lassen sich die Täter noch nichts zu Schulden kommen, denn sie wollen ja das Vertrauen ihrer Opfer erschleichen - sich gutmachen.
Dieses wächst mit der Zeit und so auch die relevanten Aufgaben, die die vermeintlich selbstlosen Alltagshelfer übernehmen. Dadurch wächst auch ihr Zugang zu wichtigen Ressourcen und Informationen, wie beispielsweise Passwörtern, dem Bankkonto, um Überweisungen für die Betroffenen zu tätigen, bei der Steuererklärung - alles unter dem Vorwand der Hilfeleistung und Unterstützung. Bis hierhin ist es meist auch schwer zu unterscheiden, ob jemand tatsächlich selbstlos Hilfe anbietet oder die Durchleuchtung des potenziellen Opfers und dessen Abhängigkeit plant.
Schlechtmachen
In der zweiten Phase erfolgt oftmals das Schlechtmachen - spätestens jetzt sollte man besonders wachsam sein. Hier beginnt oft die Isolierung des Opfers von seinem Umfeld, durch das Diffamieren bisheriger Weggefährten und einzelner Angehöriger. Denn in vielen Fällen haben die vom Missbrauch betroffenen Personen Angehörige. Wenn innerhalb der Familie bereits Spannungen bestehen, haben es die potenziellen Täter besonders leicht: Anstatt zu schlichten oder sich aus Streitigkeiten herauszuhalten, wird Öl ins Feuer gegossen und es werden Zweifel an Absichten und Aufrichtigkeit von Kindern, Enkeln oder anderen Personen aus dem engeren Umfeld gestreut und Kontakte systematisch unterbunden.
Konkret kann das folgendermaßen aussehen: Wenn Freunde oder Angehörige anrufen oder zu Besuch kommen wollen, werden sie unter Vorwänden weggeschickt, wenn der Täter vor Ort ist. Es werden gar Türklingeln abgeklemmt, Batterien aus Telefonen oder auch Hörgeräten entfernt oder die Post abgefangen. Hat beispielsweise der Enkel angerufen, wird behauptet, die Großmutter schlafe - der Anruf wird nie weitergegeben und anschließend behauptet, die Familie würde sie im Stich lassen. Dringt dann doch ein Familienmitglied durch und fordert Transparenz, heißt es: „Die wollen nur an Dein Geld und Dich ins Heim abschieben.“ Es werden neue Vollmachten verlangt, die dem Täter freie Hand geben, unter dem Hinweis, dass dies zur weiteren Versorgung erforderlich sei. Und dann geschieht genau das, wovor sich die Senioren fürchteten und zu schützen versuchten.
Insbesondere wenn bei den Opfern im höheren Alter schon eine beginnende Demenz vorliegt, kommen die Täter mit diesen perfiden Maschen besonders leicht davon. Aus Trauer und inszenierter Einsamkeit wird Wut und Enttäuschung - in vielen Fällen folgen Streit, Abschottung und der Kontaktabbruch. Haben Täter ihre Missbrauchsopfer erst einmal von ihrem sozialen Umfeld isoliert, schlagen sie mehrere Fliegen mit einer Klappe: Die Abhängigkeit zu ihnen wächst massiv und kaum jemand bekommt jetzt noch mit, was mit den Betroffenen passiert.
Spätestens jetzt ist der Vollmachtgeber dem potenziellen Betrüger ausgeliefert. Generalvollmachten bieten potenziellen Tätern enorme Macht: Nicht nur kann in diesem Schreiben festgehalten werden, dass der Bevollmächtigte Entscheidungsgewalt nahezu alle Lebensbereiche erhält. Standardmäßig steht oft in den Vollmachtvordrucken, dass der Bevollmächtigte auch über eine Heimeinweisung des Vollmachtgebers entscheiden darf.
Wegmachen
Hat es ein Täter also tatsächlich nur auf das Geld eines Opfers abgesehen, könnte diese Person das Opfer „wegmachen“ - sprich,mit Medikamenten ruhig stellen,in ein Heim stecken und die Konten unter dem Vorwand der aufwändigen Versorgung leer räumen und verschwinden lassen - ohne, dass sie sich klar rechtlich angreifbar macht - denn eine böse Absicht muss schließlich erstmal nachgewiesen werden und das ist oft nicht leicht bis unmöglich, wenn der Vollmachtgeber zu allem ja im Vorfeld sein Einverständnis in Form der Vorsorgevollmacht gegeben hat.
Ist der Täter auch noch notariell beurkundet bevollmächtigt, kann dieser dann auch Haus und Hof verkaufen, wenn er das Opfer in einem Heim untergebracht hat. Ist beispielsweise aufgrund von Demenz oder verabreichten Sedativa die Geschäftsfähigkeit nicht mehr gegeben, kann die Vollmacht dann meist nicht mehr widerrufen werden. Doch wie kann es sein, dass Notare und Ärzte so etwas mitmachen?
„Betrüger betreiben hierfür oft Ärzte- und Notar-Shopping“, erklärt Winnebeck. Es werden so lange Arztpraxen und Notare gewechselt, bis man an jemanden gerät, dem die Hintergründe entweder schlichtweg egal sind oder den man leicht davon überzeugen kann, dass das Opfer nicht mehr bei Sinnen sei und man ja nur in dessen Interesse handle. Nun wird häufig das Vermögen verbraucht oder verschoben: Bargeld oder Schmuck verschwinden beispielsweise aus Safes, es wird gebaut, renoviert, neue Autos stehen vor der Tür. Die Opfer verschwinden aus der Öffentlichkeit oder sogar ganz aus dem Leben: „Wenn es den Tätern nur ums Geld geht, haben diese im schlimmsten Fall kein Interesse daran, dass ihr Opfer lange in einem kostenintensiven Pflegeheim untergebracht ist“, erklärt Winnebeck. Dies wird schließlich von dem Vermögen bezahlt, das sich die Täter unter den Nagel reißen wollen. In einer solchen Situation sind die Angehörigen eventuell schon mit einem Kontaktverbot durch die Täter belegt, das auch dann noch wirkt, wenn diese schon lange über alle Berge sind, zeichnet Winnebeck den möglichen Ausgang eines Vollmachtmissbrauchs.
Angehörige und Betroffene sind oft machtlos
Wie kann es sein, dass das in Deutschland möglich ist? Laut Hildegard Winnebeck liege das am Prinzip der „Privatautonomie“, beziehungsweise dem Persönlichkeitsrecht: Dies gewährt dem Einzelnen innerhalb bestimmter Schranken die Möglichkeit, seine rechtlichen Verhältnisse frei, also nach eigenen Vorstellungen, zu gestalten. Sie ist die Grundlage eines liberalen bürgerlichen Rechts und wird durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet. Die wichtigsten Elemente der Privatautonomie sind Vertragsfreiheit, Eigentumsfreiheit und Testierfreiheit. Das Prinzip gilt in Deutschland als „heilige Kuh“, so die Juristin: „es sei nun mal der Wille der Senioren, wenn sie solche Verfügungen träfen“ und sie höre immer wieder „Senioren seien genügend geschützt – doch in Wahrheit sind sie nicht geschützt“, so die Anwältin. „Wenn Entscheidungen und Verfügungen unter Druck, Manipulation oder in Abhängigkeitsverhältnissen erfolgen, sind sie eben nicht mehr frei, sondern an der Grenze zu einer nicht nachweisbaren Erpressung“.
Andere Staaten wie Frankreich oder die USA haben Strafrechtskonstrukte, die Vollmachtmissbrauch und das Ausnutzen von schwachen und abhängigen Personen empfindlich bestraft, mit bis zu sechsstelligen Geldstrafen, bis hin zu Freiheitsstrafen. Für Winnebeck ist es „absolut nicht nachvollziehbar, warum man in Deutschland meint, das brauche man nicht. Es ist ein offenes Tor zu Missbrauch“.
Zwar können Betreuungsgerichte eingeschaltet und die Polizei informiert werden, jedoch sind diese Prozesse oft langwierig und kompliziert und führen nur in wenigen Fällen zum Erfolg, erklärt die Anwältin. Fehlt beispielsweise Geld vom Vermögen des Opfers, kann man Strafanzeige wegen Untreue erstatten. Doch sehr oft stützen sich Staatsanwaltschaften und Gerichte auf den Standardsatz „Famililäre Verwerfungen“. Es sei dann nicht nachvollziehbar, dass dies nicht dem Willen des Vollmachtgebers entsprochen habe. „Dass jemand mit Tricks und Manipulationen in eine Falle gelockt worden ist, ist irrelevant beziehungsweise nicht (mehr) nachweisbar - es herrscht Beweisnotstand“, so Winnebeck. „Die Gerichte sind zwar zu eigenen Ermittlungen verpflichtet, verlangen aber oft ausgerechnet von denen Beweise, die von den Tätern ausgebootet und ausgeschlossen wurden. Das ist denen natürlich genau aufgrund der Taktik unmöglich.“
Was sind Anzeichen - Wie kann man Vollmachtmissbrauch vorbeugen?
Selbstverständlich schildert dieser Artikel einige Extremfälle und nicht jeder Missbrauch verläuft so ab. Doch Vollmachtmissbrauch ist eine unterschätzte Gefahr mit im schlimmsten Fall verheerenden Konsequenzen. Um die Gefahr zu wissen, um sich und Angehörige schützen zu können, ist daher ratsam. Denn ist es einmal zu spät, sind Betroffenen sowie deren Angehörigen oft die Hände gebunden.
Am wichtigsten ist, wachsam zu sein, mahnt Winnebeck. Kommt es zu Auffälligkeiten, zum Beispiel neue Bekanntschaften, die plötzlich ungewöhnlich viel Zeit mit dem oder der Angehörigen verbringen oder wenn die Angehörigen immer weniger ansprechbar werden, heißt es: „bei den ersten Zweifeln engen Kontakt halten und Versorgungslücken, die durch die Täter belegt werden, zu schließen. Im Falle von Spannungen das Vertrauen wieder aufbauen.“ So schließt man potenzielle Einfallstore. Im besten Fall hat man Überblick über die finanzielle Situation des Familienmitglieds, sodass auffällt, wenn beispielsweise:
- unnötige teure Luxusanschaffungen (zum Beispiel ein schickes SUV wegen des komfortablen Einstiegs) unter dem Vorwand der Bedürfnisse der alten Menschen getätigt werden
- viele aufwendige Renovierungsarbeiten am Haus durchgeführt werden
- Lebensmittelkosten in die Höhe schnellen
- der Bargeldbedarf plötzlich steigt
- zu ungewöhnlichen Zeiten Geldbewegungen, Zugriffe auf Safes, Abhebungen oder Zahlungen getätigt werden
- Geld verschwindet
Fertigen Sie zudem Notizen über Auffälligkeiten an. Notieren Sie Ort, Datum und Uhrzeit. Falls möglich, machen Sie Fotos und bringen Sie Freunde als Zeugen mit.
Vollmachten sollten immer im Original vorgelegt werden, denn oft existieren auch noch Kopien von widerrufenen Vollmachten. Bei einem Widerruf - der jederzeit möglich ist - soll immer das Original herausgefordert werden.
Vollmachten müssen auch sorgfältig gelesen werden, denn nicht alles, was Generalvollmacht heißt, berechtigt auch zu allem. Wenn einem Geschäftsunfähigen Vollmachten zur Unterschrift vorgelegt werden, könnte das auch eine Urkundenfälschung darstellen. Denn ein Vollmachtgeber kann eine Vollmacht zu jedem Zeitpunkt und mit sofortiger Wirkung widerrufen oder ändern, erklärt Winnebeck.
Wenn ernsthafte Verdachtsmomente auf Vollmachtmissbrauch bestehen, sollten die zuständigen Behörden informiert werden. Der Fall sollte bei der Polizei, dem Betreuungsgericht und der Staatsanwaltschaft gemeldet werden. Jeder kann eine Kontrollbetreuung anregen, wenn er der Meinung ist, dass eine Vollmacht nicht zum Wohl oder nach dem Willen des Vollmachtgebers ausgeübt wird.
Über die „Initiative gegen Vollmachtmissbrauch e.V.“
Die „Initiative gegen Vollmachtmissbrauch e.V.“ ist ein gemeinnütziger, eingetragener Verein. Sie entstand als Reaktion auf die persönliche Geschichte der Gründerin und anderer Betroffener. Die Anwältin entschied sich daher, mit dem Verein anderen Angehörigen und Betroffenen zu helfen und dem Thema mehr Öffentlichkeit zu geben und für die Zukunft die Rechtssicherheit und Schutzmechanismen für Betroffene zu stärken. Die „Initiative gegen Vollmachtmissbrauch e.V.“ setzt sich aktiv gegen Vollmachtmissbrauch in all seinen Formen ein, sei es physisch, psychisch, oder finanziell.
