
Als der 26-Jährige in die Notaufnahme eingeliefert wurde, befand er sich in einem kritischen Zustand: Sein Puls lag bei 110, er schwitzte stark, und sein Blutdruck war mit 80/40 extrem niedrig. Der junge Mann hatte sein Leben beenden wollen und dafür eine komplette Monatsration eines neuen Antidepressivums eingenommen, das er im Rahmen einer klinischen Studie erhalten hatte. Eine vermeintlich tödliche Dosis.
Auch eine mehrstündige Notfall-Behandlung verbesserte seinen Zustand nicht. Schließlich wurde ein Arzt hinzugezogen, der die Studie überwachte - und es stellte sich heraus: Der junge Mann war in der Placebo-Gruppe und hatte Tabletten ohne jeden Wirkstoff geschluckt. Als der 26-Jährige dies erfuhr, normalisierte sich sein Zustand innerhalb von Minuten.
Der Fall, über den die Fachzeitschrift General Hospital Psychiatry 2007 berichtete, ist wohl eines der extremsten Beispiele für den sogenannten Nocebo-Effekt (die negative Variante des Placebo-Effekts, der die positive Wirkung von Medizin beschreibt, die allein durch die Erwartung entsteht, dass sie hilft - selbst wenn die verabreichte Substanz keinen Wirkstoff enthält). Der Effekt in Kürze erklärt: Manchmal reicht es, eine negative Erwartung zu haben, um sich tatsächlich körperlich schlecht zu fühlen.
Wie entsteht der Nocebo-Effekt?
Erwartungen beeinflussen die Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen im Gehirn. Wenn eine Person überzeugt ist, dass eine Substanz oder ein Einfluss schädlich ist, können Stressreaktionen, veränderte Schmerzverarbeitung und hormonelle Veränderungen auftreten. Studien zeigen, dass teilweise schon allein das Lesen von Warnhinweisen oder das Hören negativer Berichte ausreicht, um entsprechende Symptome hervorzurufen. Dieses Phänomen findet man in vielen Lebensbereichen.
Arzneimittel
Medikamente sind ein klassisches Feld für den Nocebo-Effekt. In klinischen Studien berichten Patienten, die über mögliche Nebenwirkungen informiert werden, diese deutlich häufiger - selbst dann, wenn sie ein wirkstofffreies Präparat erhalten. Typische Symptome sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit oder Hautreaktionen. In einer großen Analyse von Schmerzmittelstudien zeigte sich, dass bis zu 25 Prozent der Placebo-Gruppe Nebenwirkungen meldeten, die eigentlich nur dem Wirkstoff im richtigen Medikament zugeschrieben werden.
Die Ursache liegt in der Erwartungshaltung: Wer eine Packungsbeilage liest, in der von „häufigen Kopfschmerzen“ die Rede ist, achtet stärker auf jedes Ziehen im Kopf. Das Gehirn interpretiert dann normale Empfindungen als Warnsignal.
Impfungen
Während der COVID-19-Pandemie wurden Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Müdigkeit oder Muskelschmerzen häufig gemeldet. Analysen von Impfstudien zeigen: Ein erheblicher Teil dieser Beschwerden trat auch bei Placebogruppen auf. In einer US-Studie berichteten 35 Prozent der Teilnehmer nach einer Placebo-Injektion über Kopfschmerzen, 16 Prozent über Müdigkeit. Die Erwartung „Die Impfung macht krank“ wurde durch Medienberichte und soziale Netzwerke verstärkt.
Der Effekt ist auch bei Grippe- oder HPV-Impfungen bekannt: Menschen, die skeptisch sind oder negative Geschichten gehört haben, melden häufiger Beschwerden. Interessant ist, dass der Nocebo-Effekt nicht nur körperliche Symptome betrifft, sondern auch psychische: Angst vor vermeintlichen Impfschäden kann zu Schlafstörungen und Panikattacken führen.
Maskentragen während der Pandemie
Auch das Tragen von Masken während der COVID-19-Pandemie war nicht frei von Nocebo-Effekten. Viele Menschen berichteten über Kopfschmerzen, Atemnot oder Stresssymptome - Beschwerden, die nicht allein durch das reine Vorhandensein der Maske erklärbar sind. Eine deutsche Studie mit über 1000 Teilnehmern zeigte: Personen, die Masken als stark belastend empfanden, klagten signifikant häufiger über Kopfschmerzen und Luftmangel. Diese Symptome traten vor allem bei Menschen auf, die Masken als „gesundheitsschädlich“ betrachteten oder sich stark auf mögliche negative Folgen konzentrierten.
Elektrizität und Mobilfunk
Viele Menschen berichten über Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Konzentrationsprobleme in der Nähe von WLAN-Routern, Mobilfunkmasten oder Hochspannungsleitungen. Doppelblindstudien zeigen jedoch: Die Symptome treten unabhängig von tatsächlicher Strahlung auf, sobald Betroffene glauben, exponiert zu sein.
In einer Studie wurden beispielsweise Teilnehmer in Räume gesetzt, die angeblich elektromagnetischer Strahlung ausgesetzt waren - tatsächlich war die Technik aber abgeschaltet. Dennoch klagten anschließend viele über Beschwerden. Die Angst vor „unsichtbarer Gefahr“ ist hier der Auslöser. Gesellschaftlich wird das Problem durch alarmistische Berichterstattung verstärkt. Begriffe wie „Elektrosmog“ suggerieren Giftigkeit, obwohl die Strahlungswerte weit unter den Grenzwerten liegen.
Zu beobachten ist dieser Effekt gelegentlich beim Mobilfunk-Ausbau: Es gibt dokumentierte Fälle, in denen Anwohner über Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Unwohlsein berichteten, nachdem in ihrer Nähe ein Mobilfunkmast aufgestellt worden war - obwohl dieser, was die entsprechenden Anwohner nicht wussten, noch gar nicht eingeschaltet war.
Windräder
In Regionen mit neuen Windkraftanlagen klagen Anwohner über Schwindel, Schlafprobleme oder Herzrasen. Interessanterweise häufen sich Beschwerden vor allem dort, wo in der öffentlichen Debatte die angeblichen Gesundheitsrisiken übermäßig betont werden. Messungen zeigen zwar, dass die physikalischen Einflüsse wie Infraschall minimal oder auch gar nicht vorhanden sind - dennoch können negative Erwartungen dazu führen, dass Menschen in der Umgebung von Windrädern echte Symptome entwickeln.
Voodoo-Flüche
Meist assoziiert mit Afrika (dem Ursprung der Voodoo-Religion), der Karibik oder schlechten Filmen, sind Voodoo-Flüche letztlich auch nichts anderes als extreme Beispiele für den Nocebo-Effekt. Wer allerdings denkt, ein solcher Fluch könne keine Wirkung haben, der irrt: Es gibt tatsächlich dokumentierte Fälle in denen Menschen innerhalb weniger Tage starben - ganz ohne toxische oder infektiöse Ursache, sondern weil sie verflucht worden waren oder gegen ein Tabu verstoßen hatten. Besonders in Gesellschaften, die fest ans Übernatürliche glauben, kann die Überzeugung „Ich werde sterben“ gelegentlich tatsächlich tödlich wirken.
