Nürnberg - Der Krieg in der Ukraine hat tiefe Wunden gerissen. Bis in Familien, die seit Jahren in Deutschland leben. Ein Roman über das tiefe Dilemma zwischen Mutterliebe und Propaganda.

Die Familie sucht man sich nicht aus. In den meisten Familien finden wir Menschen, die politisch so gar nicht im Einklang zueinander stehen. Und doch bleibt man Familie. Während der Corona-Krise konnten viele das hautnah erleben. Völlig überraschend beginnt ein Onkel, eine Cousine oder die eigenen Eltern zu verkünden, man wolle sich nicht impfen lassen, weil die Pandemie nur eine Verschwörung sei.

Ein noch extremeres Beispiel schildert Dmitrij Kapitelman in „Russische Spezialitäten“. Denn hier reißt nicht die Pandemie einen Graben in der Familie auf, sondern der russische Überfall auf die Ukraine.

„Russische Spezialitäten“: Ein autobiografisch inspirierter Roman

In seinem Debüt „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ schrieb Dmitrij Kapitelman über seinen Vater, diesmal richtet sich die Perspektive auf seine Mutter. Mitte der 90er-Jahre waren die Kapitelmans aus der Ukraine nach Deutschland gezogen und haben in Leipzig einen Laden für russische Spezialitäten eröffnet, den Magasin. Sie stammen eigentlich aus Kyjiw, zählten aber zur russischsprachigen Bevölkerung.

Der Roman spielt auf verschiedenen Zeitebenen. Die Handlung findet zwar in der Gegenwart statt, doch ist das Buch gespickt mit Rückblicken und Erinnerungen Kapitelmans an seine Jugend und Kindheit, in der er seiner Familie und dem Magasin tief verbunden war.

Heute ist es allerdings etwas schwieriger. Noch immer fühlt sich Dmitrij seiner Familie verbunden, doch den Laden gibt es nicht mehr. Seit einem Schlaganfall ist der Vater körperlich versehrt. Seine Mutter lässt sich von russischer Propaganda berieseln und ist überzeugt, dass Putin das Land von Nazis befreien will, die die Ukraine im Gegenzug zerstören.

Dmitrij ist hin- und hergerissen. Zwischen seiner Liebe zu seiner Muttersprache, seiner Heimatstadt Kyjiw, seiner Familie auf der einen Seite und dieser unsäglichen politischen Einstellung, der seine Eltern verfallen sind. Eigentlich will er sich völlig von ihnen distanzieren, doch so richtig klappt das nicht.

In einem verzweifelten Versuch, seine Eltern und vorrangig seine Mutter davon zu überzeugen, dass sie auf der falschen Seite des Konflikts steht, reist Dmitrij nach Kyjiw, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.

„Russische Spezialitäten“: Ein Roman der Gegensätze

Bis zum Ende seiner Reise wird Dmitrij immer wieder vor Augen geführt, dass es eine deutliche Trennung zwischen Schwarz und Weiß nicht gibt, obwohl völlig klar ist, wer in diesem Krieg der Aggressor ist.

Da wären zum einen die Freunde der Familie, die er in der Ukraine besucht. Die ihn trotz der Aussagen seiner Mutter willkommen heißen und bereits in der Vergangenheit eine große Hilfe und Stütze für die jüdische Familie Kapitelman waren. Obwohl sich Andrij mit früheren Aussagen klar als Antisemit geoutet hat.

Oder die Mutter mit ihrem kleinen Kind, die er im Zug nach Hause trifft und die ihm von den Zuständen erzählt, die nicht nur im russischen, sondern auch im ukrainischen Militär herrschen.

Und seine eigene Mutter zu Hause, die völlig der russischen Propaganda verfallen ist, sich aber gleichzeitig hingebungsvoll um den Vater und die bettlägerige Schwester kümmert.

Zwischen Krieg und Alltag

Ebenfalls interessant ist, wie bereits der Alltag im kriegsgebeutelten Kyjiw eingezogen ist. Die Menschen machen sich kaum mehr Gedanken bei Luftalarm. Dmitrij sitzt bei Andrij und Zoja, tauscht Geschichten aus und trinkt mit ihnen Wodka, während das Haus des Nachbarn in Schutt und Asche liegt. Sein Freund Rostik lebt als junger Vater eine ganz gewöhnliche Kleinfamilienidylle, während ständig der Einzug ins Militär droht.

Er selbst fühlt sich mit seinen eigenen Problemen wie ein Heuchler, angesichts dieser unmittelbaren Existenzbedrohung in Kyjiw. Doch auch zu Hause, in Leipzig, muss die Familie um die Existenz fürchten. Denn hier erstarkt die politische Rechte. Nicht nur im Landtag, auch auf der Straße. Und so endet der Roman passend mit einem innigen Moment zwischen Mutter und Sohn, kurz bevor eine Auseinandersetzung mit Neonazis bevorsteht.

„Russische Spezialitäten“

von Dmitrij Kapitelman

  • 192 Seiten
  • Hanser Berlin
  • ISBN 978-3-446-28247-6
  • 23 Euro

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