
Bereits 1993 veröffentlichte Uwe Timm seine Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“. Hinter dem Titel verbirgt sich eine sonderbare Geschichte, die zwar fiktiv ist, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs aber durchaus so stattgefunden haben könnte. Es ist eine Spurensuche in der Vergangenheit, die viel mehr hergibt, als die initial gestellte Frage danach, wer denn nun eigentlich die Currywurst erfunden habe.
Der englische Begriff „Sonder“ beschreibt die Realisierung, dass alle Menschen, denen wir auf der Straße, in der U-Bahn oder im Supermarkt begegnen, ein Leben führen, welches genauso komplex ist, wie unser eigenes. Ein unglaublich riesiges Geflecht an Lebensgeschichten. Jede und jeder von uns hat bereits etwas erlebt, das es wert wäre, erzählt zu werden. Eben auch die alte Frau an der Currywurstbude.
„Die Entdeckung der Currywurst“ - Worum geht es?
Unser Ich-Erzähler ist Nostalgiker. In seiner Kindheit hat er viel Zeit bei seiner Großmutter in Hamburg verbracht und lernte dort Lena Brücker kennen, eine ältere Dame, die nicht nur eine Nachbarin ihrer Großmutter war, sondern auch eine Currywurstbude in der Nähe betrieb. Jahre später lebt er in München, doch bei jedem Besuch in Hamburg holt er sich eine Currywurst bei Lena Brücker ab. Nach all den Jahren erkennt sie ihn immer wieder und begrüßt ihn, als wäre er nie weg gewesen.
Unser Erzähler ist sich sicher, dass Lena Brücker mal erwähnt hatte, die Entdeckerin der Currywurst zu sein. Das hatte ihm schon viele schiefe Blicke eingebracht, wann immer er sich in die Streitfrage einbrachte, wo denn nun eigentlich die Currywurst ihren Ursprung hatte. Als unser Erzähler eines Tages in Hamburg ankommt und feststellen muss, dass die Bude von Lena Brücker verschwunden ist, macht er sich auf die Suche.
Lena Brücker lebt mittlerweile in einem Altenheim. Natürlich erkennt sie unseren Erzähler sofort wieder und ist gerne dazu bereit, ihm die Geschichte von der Entdeckung der Currywurst zu erzählen. „Das ist eine Geschichte, die nur ich erzählen kann. Darin gibt es nämlich keine Helden.“
Die Geschichte spielt rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs. Lena Brücker lebt alleine in Hamburg, ihr Mann ist seit Monaten nicht mehr bei ihr gewesen, er hat eine neue Frau weiter im Osten gefunden. Mitten in diesem Chaos dieser letzten Kriegstage trifft Lena den Marinesoldaten Hermann Bremer, der am nächsten Tag an die Front weiterreisen soll. Ein Todesurteil. Dass das Ende des Krieges kurz bevor steht, kann zwar niemand wissen, doch irgendwie liegt es in der Luft. Nachdem die beiden eine gemeinsame Nacht verbringen, entschließt sich Bremer mehr oder minder spontan, auf Lenas Angebot einzugehen, sich bei ihr zu verstecken und fahnenflüchtig zu werden, anstatt weiter zu seinem Kommando zu reisen.
„Die Entdeckung der Currywurst“: Wie „How I Met Your Mother“, nur anders
Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten sein, nur so viel: Am Ende entdeckt Lena Brücker tatsächlich die Currywurst. Sie entführt uns in eine Geschichte, die von Sehnsucht erzählt, von Wünschen und dem Versuch, sie zu erzwingen. Und dabei zu verlieren. Eine resolute, starke Frau in einem Moment der Schwäche.
Im Nachhinein gewinnt man den Eindruck, dass die Frage nach der Entdeckung der Currywurst eine willkommene Gelegenheit für Lena Brücker war, ihr großes Geheimnis zu erzählen. Sie zieht uns regelrecht in ihren Bann mit ihrer Geschichte, bis wir beinahe vergessen, dass es ja eigentlich um die Currywurst geht. Geschickt hält sie uns bei der Stange, auch in dem Moment, als es scheint, dass die Sprache endlich auf die Currywurst kommt: „Mußt schon noch n büschen Geduld haben.“
Irgendwie hat Hermann Bremer schon etwas mit der Entdeckung der Currywurst zu tun. Aber nur irgendwie. Es ist eher die Hinleitung dazu, wie Lena die Currywurst entdeckte. Das moderne Publikum mag sich an eine gewisse Sitcom erinnert fühlen, die vor einigen Jahren die Quoten sprengte und davon handelte, wie ein Mann seine Frau kennenlernte. Obwohl es bis zur letzten Staffel dauerte, bis Ted in „How I Met Your Mother“ endlich auf Tracy traf.
„Die Entdeckung der Currywurst“ ist hingegen ein faszinierender, wenn auch fiktiver Bericht einer Frau, die keine Heldin war und dennoch stolz darauf ist, sich zumindest einmal den Nazis widersetzt zu haben. „Hab viel falsch gemacht. Und oft weggesehen. Aber dann hatte ich ne Chance, ganz zum Schluß. Ist vielleicht das Beste, was ich gemacht, einen verstecken, damit er nicht totgeschossen wird und andere nicht totschießen kann.“ Mit dieser reflektierten Betrachtung der eigenen Schuld und dem Widersetzen ist „Die Entdeckung der Currywurst“ im deutlich längeren Leben um einiges besser gealtert als die durchaus jüngere Sitcom „How I Met Your Mother“.
"Die Entdeckung der Currywurst"
von Uwe Timm
- 192 Seiten
- dtv
- ISBN : 978-3-423-12839-1
- 11 Euro
Weitere, interessante Buchtipps auf nordbayern.de:
Ein ungleiches Paar und eine besondere Perspektive: „Frankie“ von Jochen Gutsch - Buchtipp
Juli, August, September von Olga Grjasnowa: Identitätssuche oder Flucht vor Mid-Life-Crisis?
„Achtzehnter Stock“: Ein Roman zwischen Glamour und Plattenbau