Der Dienstag nach einer Bundestagswahl ist im Berliner Politikbetrieb traditionell ein großer Tag. Zum ersten Mal treffen die neu gewählten Abgeordneten zu den Fraktionssitzungen ihrer Parteien ein. Man erkennt sie sofort, die Frischlinge, weil sie meistens mit unsicherem Blick durch die kilometerlangen Parlamentsflure irren.

Erstmals sind an diesem Tag auch die neuen Mehrheitsverhältnisse tatsächlich sichtbar, die ja bis zu dem Zeitpunkt nur eine bloße Zahl in diversen Ergebnistabellen waren. Für die SPD gestaltete sich das geradezu triumphal: Statt wie bisher 152 Abgeordnete gehören der Fraktion nun 206 Frauen und Männer an. 54 zusätzliche Stühle werden nötig sein, damit die Neuen Platz finden können.

Einer von ihnen ist Jan Plobner (29). Der Nürnberger Standesbeamte wohnt in Altdorf und ist im Wahlkreis Roth angetreten. Über die Landesliste schaffte er es als letzter Abgeordneter in den Bundestag, wie er spät in der Wahlnacht erfuhr. Und prompt änderte sich sein Leben radikal. Binnen weniger Stunden musste er nach Berlin reisen, denn die große Politik kann nicht lange warten.

"Ein phantastisches Gefühl"

Plobner ist der einzige SPD-Neuling aus dem Großraum Nürnberg. Er durfte - aus Corona-Gründen - seine erste Fraktionssitzung gleich im riesigen Plenarsaal erleben. Es sei schon "ein phantastisches Gefühl", auf den Plätzen zu sitzen, die man bisher nur aus dem Fernsehen kennt, sagte er gegenüber unserer Zeitung. Dass er seinen Abgeordnetenausweis erhielt und gleich in der Nähe des Kollegen Karl Lauterbach saß, wirke auf ihn schon noch etwas "surreal".

Die Sozialdemokraten können all die Gestaltungsmöglichkeiten noch gar nicht fassen, die sich ihnen jetzt plötzlich auftun. Die Kanzlerschaft und sechs oder sieben Ministerien laufen geradewegs auf sie zu. Auch der wichtige Posten des Bundestagspräsidenten (siehe eigener Text auf dieser Seite) ist eine Folge der gewonnenen Bundestagswahl.

Dabei hatte das noch vor wenigen Monaten ganz anders ausgesehen. Erst im Juli und August begann der langsame Aufstieg der SPD in den Umfragen von rund 16 Prozent um rund zehn Prozentpunkte. Erst ab Anfang September konnte man dann ernsthaft darauf hoffen, die Unionsparteien CDU und CSU zu überholen.

Söders großer Irrtum

In der Biologie beschreibt man es als den Lazarus-Effekt, wenn eine schon ausgestorben gewähnte Art plötzlich wieder auf sich aufmerksam macht. Auch die SPD hat nun ihren historischen Lazarus-Effekt. Tausende Kommentatoren hatten sie, zumindest auf Bundesebene, für so gut wie tot erklärt. Markus Söder verkündete bereits Ende 2019, die Grünen seien von jetzt an die eigentliche linke Volkspartei und der Hauptkonkurrent der Konservativen.

Zwar sind die jetzt erreichten 25,7 Prozent längst nicht das, was man noch vor gut 20 Jahren unter einem Gerhard Schröder erreichen konnte (40,9 Prozent), aber die Dinge haben sich eben geändert. Jetzt reicht einem Olaf Scholz sein Ergebnis vermutlich, um die bestimmende Figur der Bundespolitik in den kommenden vier Jahren zu sein.

Erste Fraktionssitzungen im Bundestag
Kevin Kühnert dürfte in der neuen Fraktion eine große Rolle spielen. © Kay Nietfeld, dpa

Zum neuen Selbstbewusstsein der SPD gehört es auch, dass man nun innerhalb der noch gar nicht gegründeten Ampel-Koalition die Führungsrolle beansprucht. Fraktionschef Rolf Mützenich war jedenfalls so zu verstehen, als er mahnende Worte an Grüne und Liberale richtete. Er sagte: "Beide kleinen Parteien müssen sich klar werden, dass das Schauspiel, welches sie vor vier Jahren hier aufgeführt haben, der Aufgabe nicht gerecht wird."

Keine Balkon-Fotos mehr

Mützenich bezog sich auf die ausufernden Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition im Jahre 2017, bei denen es zwar schillernde Balkon-Fotos gegeben hatte, die aber letztlich scheiterten. So etwas wollen die Sozialdemokraten dieses Mal unbedingt vermeiden.

Etwa die Hälfte der künftigen SPD-Bundestagsfraktion besteht aus Neulingen. Der bekannteste von ihnen dürfte der ehemalige Juso-Vorsitzende und jetztige Vize-Parteichef Kevin Kühnert (32) sein. Der Kritiker der letzten GroKo zeigte sich in etlichen Talkshows kurz vor und nach der Wahl als Unterstützer von Olaf Scholz. Bei Koalitionsverhandlungen dürfte er als Vertreter des linken Parteiflügels durchaus gewissen Einfluss haben.

Die Fraktion der Jahre 2021 bis 2025 ist auch ungewöhnlich jung. Dafür sorgen vor allem die neu gewählten Abgeordneten, von denen mehr als die Hälfte noch keine 40 Jahre alt ist. Die Frauen dürften eine gewichtige Stimme haben. Zwar erreichte die Fraktion nicht ganz die Geschlechterparität, aber sie ist mit einem Frauenanteil von 42 Prozent schon sehr nahe dran.

Umstrittener Außenminister

Wer werden die entscheidenden Köpfe bei den Sozialdemokraten in der kommenden Legislaturperiode sein? Mit einigen Kabinettsmitgliedern war die Partei sehr zufrieden, etwa mit Arbeitsminister Hubertus Heil. Justizministerin Christine Lambrecht ist aus dem Parlament ausgeschieden, Außenminister Heiko Maas galt eher als Problemfall. Sein Posten dürfte in einer Ampel sowieso an einen der Koalitionspartner gehen.