Nürnberg - Eine Situation wie 2015, als sich hunderttausende Flüchtlinge aus der Türkei nach Mitteleuropa aufmachten, soll sich nicht wiederholen - so das Mantra der deutschen Politik. Noch ist nicht abzusehen, ob es zu einer Massenflucht aus Afghanistan kommt - doch Europa und vor allem Deutschland sollten sich wappnen, meint NZ-Chefredakteur Stephan Sohr.

Als sich 2015 hunderttausende Migranten und Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch aus Nordafrika auf dem Weg von der Türkei in die Mitte Europas - vor allem mit dem Ziel Deutschland - machten, gaben sich die meisten in der deutschen wie europäischen Politik verwundert. Verwundert, woher denn auf einmal die vielen Menschen kamen, wohin sie wollen. Hatte man doch erwartet, dass sie in der Türkei bleiben würden, wo die meisten von ihnen schon jahrelang mehr oder weniger menschenwürdig lebten.

Verwundert waren die meisten Politiker nun ganz aktuell auch wieder - dass es die radikal-islamistischen Taliban binnen kurzem schafften, das von der westlichen Militärallianz verlassene Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Verwundert geben sich dieselben Politiker lange Zeit auch, dass sich Menschen aus Afrika auf den Weg durch die Wüste in den Norden aufmachen, um irgendwie über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Nichts an diesen Entwicklungen war wirklich verwunderlich. Sie waren allesamt absehbar. Und wurden übersehen. Bis sich die Menschen eben auf den Weg machten.

Wäre es deshalb verwunderlich, wenn nun, da Afghanistan unter den Taliban ins religiös-gesellschaftliche Mittelalter abdriftet, wieder hunderttausende Menschen fliehen - wieder mit dem Ziel, unter allen Umständen nach Europa/Deutschland zu kommen? Der renommierte Migrationsexperte Gerald Knaus hält solche Spekulationen im Gespräch mit unserer Redaktion für abwegig. Er verweist darauf, dass die Lage heute eine ganz andere sei als 2015, weil die Anrainerstaaten Afghanistans ihre Grenzen sichern und keine Flüchtlinge einlassen oder gar durchreisen lassen würden. Und die Türkei als mögliches "Transitland" für Flüchtlinge, die nach Europa streben, sichere ihre Grenze zum Iran mit Soldaten.

Konflikt in Afghanistan - Taliban
Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer patrouillieren durch Kabul. © Rahmat Gul, dpa

Doch will man sich wirklich ein weiteres Mal auf den türkischen Präsidenten Erdogan verlassen, wenn es darum geht, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholen dürfe, was im Chor mit Kanzlerin Merkel Politiker aller Parteien singen? Knaus ist der Konstrukteur des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei; wie aber Erdogan tatsächlich reagiert, wenn die Verhältnisse in Afghanistan sich so entwickeln, wie es zu befürchten ist und diejenigen, die können, sich auf den Weg machen und es mit Macht und Willen durch den Iran bis zur türkischen Grenze schaffen, bleibt eine Frage, die kaum seriös zu beantworten ist. Fahrlässig wäre es allerdings, wenn die deutsche und europäische Politik ein solches Szenario wieder unterschätzen oder übersehen würde.

CSU-Chef Söder schwant jedenfalls schon Übles, er fordert die Bundesregierung zum Handeln auf und regt an, in den Nachbarländern Afghanistans Auffanglager für Flüchtlinge einzurichten. Ein Blick auf die Landkarte lässt vermuten: das wird problematisch.

stephan.sohr@pressenetz.de