Nürnberg - Die Pandemie hat aus unseren Städten Problemgebiete gemacht. Sie veröden, Geschäfte schließen, Immobilien stehen leer. Der Psychologe Prof. Joachim Hasebrook hat eine Studie erarbeitet. Und die sieht ausgerechnet in diesen Zeiten eine riesige Chance, die Städte wieder in Sehnsuchtsorte zu verwandeln. Wir haben ihn dazu befragt.

Was ist in einer Stadt anders als auf dem Land?
Hasebrook: Im Dorf ist es die Ausnahme, wenn man einen Fremden trifft. In der Stadt ist es die Ausnahme, wenn man einen Bekannten trifft.

Das hängt natürlich auch von der Größe der Stadt ab, aber eine Stadt ist nicht einfach ein großes Dorf. Eine Stadt ist ein eigener Raum, der oft an Schnittstellen entstanden ist, an Übergängen und Kreuzungen, an Handelsplätzen. Und diese Herkunft der Städte spürt man in der Substanz und auch in der Art der Städte.

Eine Stadt ist ein Raum, in dem soziale Brücken geschlagen werden. Soziale Brücken sind aus psychologischer Sicht Begegnungen von Menschen, die sich normalerweise nicht begegnen würden und die voneinander – und sei es auch nur durch Beobachtung – Ideen und Impulse übernehmen. Insofern sind solche Zufallsbegegnungen von Menschen ganz entscheidend für die Entwicklung von sozialen Brücken. In dörflichen Räumen gibt es zwar soziale Dichte, aber keine sozialen Brücken.

Begegnungen mit fremden Menschen sind in Pandemie-Zeiten aber nicht populär. Die Corona-Maßnahmen haben die Städte sehr mitgenommen.

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Prof. Joachim Hasebrook ist Psychologe, Informatiker und Unternehmensberater.  © privat, NNZ


Hasebrook: Unsere Studie ist im April, Mai gelaufen, das war zum Ende der dritten Welle. Die Stimmung in den Städten war sehr von Pessimismus geprägt, man sagte sich: Vieles geht kaputt. Vieles geht zu Ende und kommt nicht wieder, wenn überhaupt, dann vielleicht in Monostrukturen, weil sich die Handelsketten die Mieten eher leisten können als kleine Einzelhändler.

Man hat aber auch gesehen, dass Räume durch Leerstand entstanden sind. Dass das eine Chance ist, etwas anderes zu machen als Einzelhandelswüsten, wozu wir die Städte haben verkommen lassen. Nutzen wir doch die Freiräume, die jetzt entstanden sind, dafür, um auch Freiräume für Menschen zu schaffen.

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Die Fußgängerzone in Nürnberg war im Lockdown leer gefegt, der stationäre Handel verlor dadurch Kunden an die Online-Shops - wer kommt zurück, wer bleibt weg? © Stefan Hippel, NNZ


Sie sind gegen Nachverdichtung – aber die Menschen brauchen bezahlbaren Wohnraum, und das geht nur, wenn nachverdichtet wird.


Pop-up-Läden und Grün sollen die Nürnberger City beleben.


Hasebrook: Diese Vorstellung der Nachverdichtung um jeden Preis, dass innerstädtische Räume zugestellt werden, die wird letztendlich zu Gentrifizierung und zu Verteuerung von Wohnraum führen. Die Vorstellung, dass Nachverdichtung automatisch zu mehr Einwohnern, automatisch auch zu jungen Familien führt, die ist falsch. So, wie es im Moment läuft, verändern wir die Stadtstruktur nicht zum Besten.

Wenn Immobilienentwickler noch vor wenigen Monaten zu städtischen Immobilien gefragt worden wären, hätten sie gesagt, dass sich das bei der Entwicklung der Mietpreise nur lohnt, wenn ich dort auch Flächen zu relativ hohen Preisen vermieten kann. Das heißt, ich brauche ein bisschen "mixed use", damit die Leute überhaupt hinziehen.

Gastronomie plus Einkaufsmöglichkeiten, wobei sich Ketten und kleine inhabergeführte Geschäfte abwechseln müssen, sonst kann ich die Quadratmeterpreise nicht erzielen, die ich brauche, um Immobilien mit Rendite zu entwickeln. Dann stellt man jedoch fest, dass Monostrukturen entstehen, die die Leute schlicht und ergreifend ablehnen.

Nun könnte man sagen: Na gut, dann baue ich stattdessen Wohnungen. Aber Wohnungen bringen natürlich nicht dieselbe Quadratmeter-Rendite, also versuche ich Wohnungen zu errichten, die wenigstens in die Nähe dessen kommen. Diese teuren Wohnungen beleben die Innenstädte jedoch gerade nicht. In London beispielsweise gibt es Riesenwohnparks, "lights off", sagen die Briten dazu, weil dort nie Licht an ist.

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Leerstand haben alle Städte irgendwo, aber man sollte ihn nicht gleich zubauen, so Prof. Hasebrook. Er empfiehlt zum Beispiel, ihn wie auf dieser Vision theatralisch zu verhüllen und damit Diskussionen anzustoßen. © Marco Piehl, Rainer Kresing, NNZ

Ich kann zwar in der Innenstadt nachverdichten, aber wenn die Wohnungen nicht bewohnt werden, wird das nicht funktionieren. Würden wir jetzt mit dieser Art von Wohnraum nachverdichten, wäre das falsch. Nicht weil es falsch wäre, Wohnraum zu schaffen. Aber wir müssen von der anderen Seite her denken und dafür sorgen, dass die Leute in die Städte kommen wollen, also die Stadt wieder als Sehnsuchtsort inszenieren.

Wie soll das funktionieren?
Hasebrook: Wir müssen Begegnungsmöglichkeiten schaffen, dazu gehört natürlich auch Wohnen. Aber möglicherweise alternative Wohnformen, Generationenwohnen zum Beispiel. Wo auch ältere Leute in der Stadt wohnen bleiben und sich das auch leisten können. Das geht aber nur, wenn dieser Gebäudekomplex so gestaltet ist, dass auch andere hochpreisige Nutzung möglich ist.

Dies kann man nicht verordnen, das muss wachsen. So werden Städte attraktiv und es passiert ganz natürlich eine Nachverdichtung. In München wurden Dachflächen von Parkhäusern aufgestockt, um Wohnraum zu schaffen, in Hannover entstehen Siedlungen aus Tiny Houses. Es gibt viele Formen der Nachverdichtung, die ganz anders aussehen als die klassische Nachverdichtung, wo der Innenhof der einzige Platz zum Spielen ist, und den baut man noch mit Wohnungen zu.


Kreativität gibt es, aber wer bezahlt diese Ideen?
Hasebrook: Das, was wir hatten, hat am Ende auch nicht mehr Geld gebracht. Das Problem der Verödung der Innenstädte hat schon vor Corona eingesetzt. Corona hat den Trend beschleunigt. Ich bin kein Experte für Immobilienentwicklung und Finanzierung, sondern Psychologe. Ich schaue aus einem psychologisch-sozialen Blickwinkel auf die Stadtentwicklung.

Aber wir haben in unserer Arbeitsgruppe für die Studie auch Immobilienentwickler, die durchaus mit einer gehörigen Portion Skepsis an die erste Überlegung rangegangen sind, gleichzeitig aber auch gesehen haben: Die großen Einkaufszentren mit Systemgastronomie am Stadtrand, die waren vor zehn, 15 Jahren super Objekte. Heute tragen die zum Teil nicht mal mehr ihre Betriebskosten.

Diese alten Konzepte funktionieren einfach nicht mehr. Das ist den Immobilienentwicklern bewusst und sie sagen: Wie können wir dafür sorgen, dass in Innenstädten eine Frequenz entsteht, eine soziale Dichte, damit ich überhaupt wieder Objekte mit Rendite entwickeln kann?

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Die Äußere Neustadt gilt als das vielfältigste, originellste Stadtviertel Dresdens. "Dieses Viertel konnte kein Stadtplaner planen", so Prof. Joachim Hasebrook. © imago images/Sylvio Dittrich, NNZ

Heißt das, man muss langfristiger planen?
Hasebrook: Langfristigkeit klingt so, als würde man die alte Einkaufsmall ersetzen durch Einkaufsdörfer, das ist jetzt der neueste Trend: ein bisschen Kultur, ein bisschen Wohnen, auch mal ein Kindergarten. Man hofft, sich damit ein bisschen rüber zu retten. Tatsächlich erforderlich ist eben nicht, langfristige Lösungen zu schaffen. Weil wir nicht wissen, was wir langfristig für Lösungen brauchen. Sondern wir müssen mehr Unsicherheit aushalten und Raum für Entwicklung geben.

Das kann bedeuten, dass man jetzt Leerstand hat, den man nicht gleich wieder vollbelegt mit irgendwas, sondern sagt: Okay, in diesen Leerstand setzen wir jetzt mal für ein Jahr ein Gewächshaus. Und in einem Jahr machen wir vielleicht wieder etwas anderes. Wir haben eine Stadt begleiten dürfen, die hatte ein städtisches Gebäude, das aber nur von ein paar Ämtern genutzt wurde.

In diesem Viertel wohnten aber viele ältere Menschen, die zunehmend aus der Stadt rausgedrängt werden und die Schwierigkeiten haben, sich weiterhin in der Stadt zu halten und zu versorgen. Die Stadt beschloss, aus dem mehrstöckigen Gebäude ein Stadtteilzentrum für ältere Menschen zu machen, das aber auch Familien und vielen Initiativen offen steht. Nun sind städtische Institutionen eingezogen, die sich mit älteren Menschen beschäftigen, Initiativen von Angehörigen Demenzerkrankter.

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Vor allem der Kunsthof in der Äußeren Neustadt mit seinen Cafés und Geschäftchen und der ungewöhnlichen Architektur ist beliebt. © imago images/Metodi Popow, NNZ

Im Haus gibt es ein zentrales Treppenhaus, das von einer inklusiven Schule, in die behinderte und nichtbehinderte Kinder gehen, zusammen mit einem Gartenbauunternehmen begrünt und unterhalten wird. Dieser vertikale Garten macht den alten Leuten viel Spaß, viele Schüler wuseln jetzt dort rum. Das Gebäude ist nicht groß umgebaut worden, es sind nur einige Wände rausgekommen. Aber die soziale Organisation dieses Raums ist das, was entscheidend war. Wir glauben, dass es viele solcher Leerstände gibt.

Aber Stadtplanung ist nun einmal langfristig.
Hasebrook: Vielleicht kennen Sie die Dresdner Altstadt, lange waren dort nach der Wende die Besitzverhältnisse ungeklärt. Ein ganzer Stadtteil ist verfallen. Bäume wuchsen aus den Fenstern. Dann sind Hausbesetzer eingezogen, es sind Ateliers entstanden, kleine Cafés, Geschäftchen, schließlich wieder ein teureres besseres Wohnhaus. Insgesamt eine ganz bunte Mischung – kein Stadtplaner hätte das planen können.

Als die Besitzverhältnisse geklärt waren, haben viele gemerkt: Da ist ja interessantes Leben entstanden, wir versuchen, das zu integrieren. Diese Entwicklung wurde sehr stark von der Stadt moderiert. Dresden hat die Nerven gehabt, eine Entwicklung einfach zuzulassen, und sie haben den Mut gehabt, das, was dort entstanden ist, zu integrieren.

Städte müssen "Follies" einrichten, das sind eigentlich Schmuckbauten in Landschaftsgärten, die nur für eine bestimmte Zeit einen Nutzen erfüllen. Also zum Beispiel ein Palast, der eigentlich nur aus Sperrholz besteht. Das wurde gemacht, weil diese Sehenswürdigkeiten nicht lange halten sollten, die sollten eine Zeit lang ein bestimmtes Vergnügen bieten, dann kam wieder was anderes.


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Wer soll diese womöglich kurzlebigen Ideen bezahlen? Gerade Nürnberg ist chronisch klamm.
Hasebrook: Ich glaube, dass wir neue Allianzen brauchen. Das können die Kommunen nicht alleine tragen. Das gilt nicht nur für klamme Kommunen, sondern für alle. Es handelt sich um eine Ausgabe von Dekaden. Wir brauchen jetzt Mut und wir brauchen die Verantwortung der Eigentümer. Vielleicht gibt es auch in Nürnberg Flächen, die eigentlich brachliegen, kleine Leerstände, kleine Höfe. Das können Dachflächen sein, wo jetzt Klimaanlagen stehen. Diese Räume kann man nutzen.


Bauprojekte: So sieht Nürnberg in Zukunft aus.


Was sagen Sie Traditionalisten, die alles möglichst bewahren möchten?
Hasebrook: Die Idee ist, dass man etwas ausprobieren kann mit überschaubaren Mitteln, und dass man es wieder zurückbauen kann. Wenn man etwas hingebaut hat in Beton und Stahl, ist das sehr langfristig, und daraus folgt auch eine ganz andere Diskussion. In Graz haben sie eine beleuchtete Insel in den Fluss gesetzt, das war ein kleines Amphitheater mit einem Café dran und endete in zwei schwingenden Brücken zum Ufer. Die Leute waren begeistert.

An der Kunsthalle dagegen, die fest installiert war, hatte sich viel Diskussion entzündet. Man muss dennoch ehrlich sein: Viele der kreativen Ideen können funktionieren, müssen aber nicht. Man sollte anfangen mit Formen, die eine gewisse Vorläufigkeit haben, dann sieht man schnell, ob es funktioniert und kann sich überlegen, ob man das permanent macht. Daraus kann sich ein Anziehungspunkt entwickeln und es folgen die Umsätze.

Taugen die Ergebnisse der Studie für jede Stadt?
Hasebrook: Das hängt sehr davon ab, wie man die Partizipation entwickelt. Bei vielen Architektenwettbewerben gibt es Bürgerversammlung. Dort fragt man "Wie finden Sie das?", dort schaut man auf das Modell und sagt "Ja, ein bisschen mehr Grün finde ich nicht schlecht". Mehr kann man de facto auch nicht erwarten.

Nein, Beteiligungsprozesse muss man viel stärker organisieren und begleiten, man muss sich darum bemühen, einen repräsentativen Querschnitt von Leuten zusammen zu bekommen und nicht die üblichen Verdächtigen, die sowieso in jede Sitzung gehen und auch die Zeit dafür haben. Wenn tatsächlich klar ist, dass diese Ideen aus der Mitte der Bevölkerung kommen, werden die Ideen natürlich anders gesehen.

In Nürnberg hat man im letzten Sommer eine mutige Idee ausprobiert und auf dem historischen Hauptmarkt einen Jahrmarkt aufgebaut, sogar mit Riesenrad. Aber die Empörung war groß.
Hasebrook: Ein Riesenrad auf dem Hauptmarkt? Das halte ich ehrlich gesagt für eine reichlich seltsame Idee. In unserer Sehnsuchts-Studie sehen wir, dass die Leute sagen: Ich möchte, wenn ich mit geschlossenen Augen irgendwo hinfahre und die Augen aufmache, erkennen, in welcher Stadt ich bin. Die soll Charakter haben – und es macht keinen Sinn, gegen den Charakter einer Stadt zu arbeiten.

Die Museumsbauten in Nürnberg sind modern und durchaus akzeptiert, aber es hat einen Kulturaspekt. Ich glaube, Nürnberg versteht sich als eine Kulturstadt. Die Leute sagen sich: Diese Museumsbauten repräsentieren uns, aber unser Markt als Rummelplatz, das repräsentiert uns eigentlich nicht. Und das kann ich auch nachvollziehen.

Unter der Schirmherrschaft von Michael Fraas, Stadtrat und Wirtschaftsreferent
der Stadt Nürnberg, stellte die Unternehmensberatung BlackBox/Open aus
Nürnberg die Frage: "New Work City" - Wie können wir das Zusammenspiel
von Wohnort, Arbeitsort und Arbeitsweg neu ordnen? Bei der zweitätigen Veranstaltung im Juni sprach auch Prof. Joachim Hasebrook. Infos auf Facebook: https://de-de.facebook.com/BlackBoxOpen/