
Herr Professor Greiff, was sollte heutzutage jeder Schulabgänger können – ganz egal, welche Art von Bildungsabschluss er oder sie in der Tasche hat?
Professor Samuel Greiff: Wichtiger denn je ist es, im Team arbeiten zu können und in der Lage zu sein, komplexe Probleme zu lösen. Also dazu fähig zu sein, sich flexibel auf die jeweilige Aufgabe einzustellen, sie zu erfassen, deren Lösung zu planen und dann strategisch und zielgerichtet vorzugehen.
Flexibilität oder Kreativität sind aber nur bedingt lernbar. Was also tun?
Greiff: Natürlich kann man eher pessimistisch an die Sache herangehen und – auch mit Blick auf gut erforschte Langzeit- oder Transfereffekte – sagen: Jeder Mensch ist, wie er ist, nicht zuletzt aufgrund allgemeiner Lebenseinflüsse, der Sozialisation oder erblich bedingt. Aber: In gewissem Maße kann man durchaus positiv Einfluss nehmen. Das beste Mittel ist hier noch immer eine dauerhaft gute und individuelle Beschulung. Gerade Menschen, die von Natur aus nicht sonderlich gut ausgestattet sind, kann man durch eine frühzeitige Förderung und den passenden Unterricht gut unterstützen.
Wenn Fertigkeiten wie die Problemlösefähigkeit wichtiger geworden sind, was hat an Bedeutung verloren?
Greiff: In den vergangenen 20, 30, vielleicht sogar 50 Jahren hat sich die Erwartung an und von Bildung stark verändert. Das konkrete und spezifische Wissen wird unwichtiger, weil vieles inzwischen, zum Beispiel durch Internet-Suchmaschinen wie Google, leicht zu finden, also quasi für jedermann und jederzeit verfügbar ist. Das heißt nicht, dass Fachexpertise nichts mehr wert ist, allerdings hat sie nicht mehr diese exklusive Bedeutung wie früher.
In der Bildungsforschung hat sich der Begriff "21st Century Skills" durchgesetzt. Was zählen Sie zu jenen Fertigkeiten, die Menschen benötigen, um in unserer schnelllebigen, zunehmend digitalisierten Welt zurechtzukommen?
Greiff: Eine feste Definition gibt es nicht. Außerdem ist der Begriff etwas irreführend: Es ist ja nicht so, dass die fraglichen Kompetenzen erst mit dem Jahr 2000 relevant geworden wären. Neu ist allenfalls, wie zentral gewisse Aspekte geworden sind – und das nennt man dann häufig "21st Century Skills". Auf meiner ganz individuellen Liste stehen auf jeden Fall Teamfähigkeit, Problemlösefähigkeit und Kreativität.
Die OECD, also die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die zum Beispiel für das internationale Schülerbewertungsprogramm Pisa zuständig ist, will beispielsweise im Jahr 2021 bei den Schülern die Fähigkeit zum kreativen Denken überprüfen...
Greiff: ...das dürfte nicht ganz einfach werden. Das sieht man spätestens seit dem Jahr 2012, als die OECD kreatives Problemlösen als innovative Domäne abprüfte, zusätzlich zu den klassischen Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Dabei wurde ziemlich schnell klar, wie schwierig es ist, realitätsnah derart komplexe Prozesse zu testen. Das Problem: Das innovative Potenzial ist – egal wo und wie – schlicht schwer zu messen.
Messbarkeit hin oder her – wer ist für den Erwerb und die Vermittlung dieser Fertigkeiten denn zuständig: der Einzelne selbst, die Eltern, die Schule oder die Gesellschaft?
Greiff: Persönlich denke ich, dass das Individuum oder die Eltern diesbezüglich ziemlich schnell überfordert sein dürften. Wir wissen, dass zum Beispiel bei Lernschwierigkeiten eine möglichst frühe Intervention hilft. Von einem Fünfjährigen zu erwarten, dass er sein Problem selbst erkennt und quasi heilt, ist natürlich völlig abwegig. Insofern sehe ich die Verantwortung für Erwerb und Vermittlung solcher relevanter Fertigkeiten vor allem bei den Institutionen. Letztlich handelt es sich ja dabei um einen zentralen gesamtgesellschaftlichen Auftrag.
Wen sehen Sie neben der Schule diesbezüglich noch in der Pflicht?
Greiff: Auch Unternehmen und Arbeitgeber ganz allgemein sind hier – Stichwort: lebenslanges Lernen – in der Pflicht. Sie sollten und haben ja ein Interesse an ihren Mitarbeitern. Schließlich wollen auch wir als Gesellschaft, dass produktiv und effizient gearbeitet wird. Nur auf diese Weise und mit Hilfe der erforderlichen Kompetenzen sind uns Zufriedenheit, Wohlstand und Gesundheit auch künftig sicher.
Ihrer Beobachtung zufolge, auch mit Blick auf Studien wie Pisa: Sind unsere Kinder und Jugendlichen denn (mittlerweile) fit(ter), um künftig in ihrem Alltag oder im Beruf klarzukommen?
Greiff: Seriös und datengeleitet lässt sich diese Frage nur sehr eingeschränkt beantworten. Ich würde sagen, dass Deutschland seit dem Pisa-Schock im internationalen Vergleich durchaus kleine Sprünge nach vorne gemacht hat. Andere Länder haben allerdings umfassender auf die Befunde reagiert und stehen auch deshalb nun noch besser da. In Deutschland hat der Pisa-Schock vor allem dazu beigetragen, mit einigen Bildungsmythen aufzuräumen und eine mitunter sehr emotional geführte Debatte losgetreten. Pisa hat uns gezeigt, dass die deutschen Schüler im internationalen Vergleich schlicht nicht so gute Leistungen bringen wie erwartet.
Wie untersuchen Sie in Ihrer Forschergruppe, ob jemand zum Beispiel gut im Problemlösen ist oder über andere relevante Kompetenzen verfügt?
Greiff: Das ist tatsächlich ziemlich schwierig. Beispiel Mathematik. Selbst wenn jemand nur wenig Wissen in diesem Feld hat, kann er oder sie trotzdem gut abschneiden, wenn er oder sie über eine gute Problemlösefähigkeit verfügt und systematisch an die Aufgabe herangeht – dann reicht oft auch etwas weniger Inhaltswissen. Schwierig wird es besonders dann, wenn sich jemand an einzelnen Aufgaben festbeißt oder ein mehrstufiger Lösungsprozess erforderlich ist. Relativ neuartige computerbasierte Testverfahren, die sich Prozesse und konkrete Verhaltensmuster anschauen, können uns Forschern hier aber helfen.
In Bayern gibt es die Idee, ein Fach "Alltagskompetenz" einzuführen. Inhalte könnten Ernährungs- und Gesundheitsfragen sowie eine nachhaltige Lebensweise sein. Sinnvoll oder überflüssig?
Greiff: Derartige Inhalte halte ich für sehr relevant. Allerdings bezweifle ich, dass es sinnvoll ist, hierfür ein eigenes Fach einzuführen, in einer Zeit, in der die Abgrenzungen zwischen Inhalten und Fächern ja ohnehin immer unklarer und verschwommener werden. Gleichwohl scheint es mir wichtig, fächerübergreifend und explizit am Beispiel Teamarbeit und Kollaboration zu fördern. Das Paradoxe ist heutzutage: Arbeitgeber erwarten, dass jeder Schulabgänger derartige Kompetenzen hat, explizit im Lehrplan finden sie sich aber nur selten. Alltagskompetenz in diesem Sinn verstanden halte ich für unerlässlich.
Wie muss sich Schule verändern, um den Erfordernissen der Zukunft besser Rechnung tragen zu können?
Greiff: Ich befürchte, dass allzu oft im jeweiligen Fachunterricht immer noch die konkreten Wissensinhalte zu sehr im Vordergrund stehen. Die sind zweifelsohne wichtig, aber eben nicht nur. Bei Klassenbeobachtungen bin ich immer wieder überrascht, wie viel klassischen Frontalunterricht es in Deutschland immer noch gibt und wie wenig digitale Elemente bei der Wissensvermittlung eingesetzt werden. Die Digitalisierung ist noch nicht wirklich im Bildungssystem angekommen.
Wie läuft die digitale Wissensvermittlung denn in anderen Ländern ab?
Greiff: Selbst in manchen arabischen Ländern setzen die Lehrer zum Beispiel auf spezielle Lern-Plattformen, die Schüler, ansprechend grafisch aufbereitet, beim Lernen unterstützen. Wir müssen weg von einer mancherorts immer noch vorhandenen zu starken Lehrerzentriertheit hin zum Lehrer als Lernbegleiter.
