
„Man ist nur so alt, wie man sich fühlt“, heißt es. Aber: Man ist auch deutlich länger jugendlich, als man es vermuten würde – zumindest im Hinblick auf die Entwicklung des Gehirns. In einer großangelegten Studie fanden Forscher der Universität Cambridge heraus, dass unser Gehirn im Laufe eines Lebens fünf Phasen durchläuft, welche durch vier markante Wendepunkte getrennt werden.
Aber von vorne. Wissenschaftler verglichen 3802 Gehirne von Menschen zwischen 0 und 90 Jahren anhand von Diffusions-MRT-Daten. Damit lässt sich die Bewegung von Wassermolekülen durch das Gehirngewebe nachverfolgen und visualisieren, was Abbildungen neuronaler Verbindungen ermöglicht. Im Zuge einer umfassenden Analyse der Daten konnten die Forscher ein Muster der neuronalen Vernetzung zwischen der Geburt und dem Alter von 90 Jahren rekonstruieren.
Das zentrale Ergebnis: Die strukturelle Organisation unseres Gehirns verläuft nicht kontinuierlich und graduell, sondern durchläuft fünf zentrale Phasen und vier markante Wendepunkte in der topologischen Entwicklung des Gehirns. Das teilte das britische Forscherteam im Fachblatt „Nature Communications“ mit. Dabei weist jeder Lebensabschnitt spezifische Veränderungen auf.
In diesen fünf Phasen entwickelt sich das Gehirn
Die erste Phase dauert von der Geburt bist zum neunten Lebensjahr und beinhaltet also die Entwicklung „vom Säuglingsalter bis zum Kindesalter“, wie die Forscher diese Etappe nennen. Diese Phase zeichnet ein rascher Anstieg der weißen und grauen Substanz, eine Überproduktion von Synapsen und deren spätere Auslese. Anders formuliert: Eine Fülle an Synapsen wird reduziert, bis nur die aktiven Synapsen übrig bleiben. Experten bezeichnen dies als „Netzwerkkonsolidierung“. Die Verschaltung folgt in allen Hirnregionen dabei nach demselben Grundmuster.
Der Übergang vom Kinder- und Jugendalter ereignet sich der Studie zufolge im Alter von neun Jahren. Er ist geprägt von einem erhöhten Risiko für psychische Störungen, einer Weiterentwicklung der kognitiven Fähigkeiten und Veränderungen auf sozioemotionaler und verhaltensbezogener Ebene.
Die zweite Phase, die „Adoleszenz“, beschreibt die Spanne zwischen 9 und 32 Jahren – damit erstreckt sich die Jugendphase deutlich länger, als man es erwarten könnte. Die Jugendphase ist die einzige Etappe, in welcher die Effizienz der Gehirnnetzwerke zunimmt – nämlich sowohl innerhalb einzelner Regionen als auch über weite Distanzen. Das Volumen der weißen Substanz nimmt weiter zu, die kognitive Leistungsfähigkeit steigt.
So klar der Beginn der Jugendphase absteckbar ist, nämlich mit Beginn der Pubertät, so unklar ist deren Ende. „Der Übergang ins Erwachsenenalter wird von kulturellen, historischen und sozialen Faktoren beeinflusst und ist daher eher kontextabhängig als eine rein biologische Veränderung“, schreiben die Forscher in der „Nature Communications“. In westlichen Ländern erreicht man das Ende dieser Phase etwa im Alter von 32 Jahren, bevor die Gehirnnetzwerke einen neuen Verlauf der Entwicklung beginnen. An diesem Wendepunkt seien die deutlichsten Veränderungen der Verdrahtungen sichtbar.
Die dritte Phase betrifft das „Erwachsenenalter“ zwischen 32 und 66 Jahren – es ist die längste stabile Phase der Gehirnstruktur. Kognitive Fähigkeiten, Intelligenz und Persönlichkeitseigenschaften erreichen ein Plateau, neuronale Netzwerke werden vermehrt in Teilbereiche gegliedert. Umstrukturierungen finden zwar statt, jedoch nur in geringem Umfang.
Die vierte Phase betrifft Menschen im Alter zwischen 66 und 83 Jahren und läuft in der Studie unter der Bezeichnung „Frühes Altern“. Prägnant sind eine deutliche Verschiebung in globalen Mustern, eine Ausdünnung des strukturellen Netzwerks, ein messbarer Abbau der weißen Substanz und ein erhöhtes Risiko für Erkrankungen: Zum Beispiel Bluthochdruck steht im Zusammenhang mit beschleunigter Gehirnalterung und kognitivem Verfall, er ist ein Risikofaktor für Demenz.
Das „Späte Altern“ meint die fünfte Phase, in welcher sich Menschen bis zum Alter von 90 Jahren (dem Höchstalter in der Studie) befinden. Diese Phase zeichnet aus, dass einzelne Knoten im Netzwerk eine zunehmende Bedeutung für Konnektivität auf lokaler Ebene haben und bestimmte Regionen stärker beansprucht werden, zugleich aber globale Vernetzungsstrukturen an Bedeutung verlieren. Einfacher gesagt: Das Gehirn wird lokal dominanter, global aber weniger integriert.