Nürnberg - Wie viel kann ein Mensch ertragen? Diese Frage stellt sich bei Amélie Nothombs kurzem Thriller „Der Professor“. Und das ganz ohne Angst ums Überleben.

Was macht einen Thriller zum Thriller? Normalerweise ist der besondere Thrill mit Angst verbunden, in der Regel mit der Angst ums Überleben. Oft werden die Figuren verfolgt oder müssen vor einem psychopathischen Serienmörder fliehen, um nicht selbst zum Opfer zu werden.

„Der Professor“ von Amélie Nothomb ist da völlig anders. Die eminente Gefahr um Leib und Leben fällt komplett weg. Zum Opfer werden unsere Hauptfiguren dennoch, allerdings schon zu Beginn der Handlung.

„Der Professor“ von Amélie Nothomb: Worum geht‘s?

Das ältere Ehepaar Hazel erfüllt sich ihren lebenslangen Traum. Schon seit dem Grundschulalter kennen sich die beiden und haben nie jemand anderen in ihrem Leben gebraucht, als den jeweils anderen. Jetzt, nach der Pensionierung, können sie endlich das Leben beginnen, wie sie es wollen. Und so ziehen die beiden aufs Land, in eine herrliche Idylle der Natur, mit nur einem einzigen Nachbarn.

Doch gerade als die beiden anfangen, ihr neues Leben zu genießen, taucht eben dieser Nachbar an ihrer Türschwelle auf und lädt sich selbst zum Kaffee ein. Zunächst nichts Ungewöhnliches. Es ist nichts dabei, sich bei den neuen Nachbarn vorzustellen. Der Besuch stellt sich als äußerst unangenehm heraus. Der Nachbar ist ein unangenehmer Zeitgenosse. Lakonisch und wortkarg scheint auch er den Besuch alles andere als zu genießen und die Hazels sind froh, als der Nachbar nach zwei Stunden endlich wieder geht.

Doch am nächsten Tag steht der Nachbar wieder zur exakt gleichen Uhrzeit vor der Tür. In den Zwängen der lebenslang geübten Höflichkeit lässt Émile Hazel den Nachbarn wieder rein, der Besuch des Vortags wiederholt sich auf die gleiche Weise.

Und so geht es Tag für Tag weiter. Das Ehepaar Hazel versucht mit allen Mitteln, die die Höflichkeit zulässt, mit diesem Nachbarn umzugehen, der sich zum nervtötenden Quälgeist entwickelt. Doch nichts funktioniert. Wie viel kann ein Mensch ertragen?

Wann wird aus einer Nervensäge Psychoterror?

Nun könnte man meinen, das ältere Ehepaar solle sich nicht so anstellen. Es ist schließlich kein gefährlicher Serienmörder hinter ihnen her, sondern nur ein unangenehmer Nachbar. Doch wann wird aus einer Unannehmlichkeit Psychoterror? Wir erleben die Geschichte aus der Sicht von Émile Hazel und spüren dabei deutlich, wie ihn der Nachbar an die Grenzen des Verstandes treibt.

Ein Psychothriller, in dem der Thrill also ausschließlich aus der psychischen Belastung besteht. Nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“ höhlt der Nachbar die psychische Resilienz des Ehepaars Hazel aus. Ein Thriller, der zeigt, dass das „Böse“ in unmittelbarer Nähe und völlig unscheinbar, für die Außenwelt unersichtlich, lauern kann.

Ein faszinierendes Buch, das Thriller-Fans den gewünschten Schauer über den Rücken laufen lassen dürfte. Wenn man von der politisch eher unkorrekten Darstellung der Körperfülle des Nachbarn und dem Gesundheitszustand seiner Frau einmal absieht. Man bedenke, dass das Buch in den 1990er Jahren entstanden ist und eine derartige Darstellung zwar damals schon falsch war, aber das Bewusstsein dafür noch fehlte.

„Der Professor“

von Amélie Nothomb

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