
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es normal, nicht 24/7 erreichbar zu sein, alle Telefonnummern auswendig zu können, alle wichtigen Adressen und Routen im Kopf zu haben, für Informationen in die Bibliothek zu gehen und Bücher aufzuschlagen. Heute ersetzen digitale Medien einen großen Teil der alltäglichen Gedankenprozesse oder erleichtern diese zumindest. Wir haben uns daran gewöhnt, uns auf das Internet zu verlassen. Über die Vor- und Nachteile dieser Entwicklung lässt sich streiten. Eine vermeintlich logische Schlussfolgerung daraus wäre aber die Vermutung, dass unsere Gehirne anfälliger für Demenz-Erkrankungen werden, wenn sie weniger selbständige Arbeit leisten müssen.
Vor wenigen Monaten wurde aber eine neue Studie veröffentlicht, die genau diesem Glauben widerspricht. Digitale Medien sollen Demenz-Erkrankungen nicht fördern, ganz im Gegenteil sollen sie diese möglicherweise sogar vorbeugen.
"Digitale Demenz" – was ist das?
Das deutsche Gesundheitsportal macht auf die Metaanalyse zum Thema Technologienutzung und kognitives Altern aufmerksam, die von den Neurowissenschaftlern Jared F. Benge und Michael K. Scullin der Baylor University und der University of Texas durchgeführt wurde. Veröffentlich wurde die Analyse in der Fachzeitschrift Nature Human Behaviour.
Das Ziel der Forscher war es zu prüfen, ob die "Digitale Demenz"-Hypothese sich bewährt oder sich stattdessen die Hypothese der "technologischen Reserve" bestätigt. Die Hypothese der "digitalen Demenz" besagt, dass der lebenslange Umgang mit Technologien die kognitiven Fähigkeiten verschlechtern soll. Die zweite Hypothese hingegen vermutet, dass das Nutzen digitaler Medien die Kognition fördern soll.
"Fast täglich kann man in den Nachrichten lesen, wie Technologien uns schaden. Oft fallen die Begriffe "Brain Drain" und "Brain Rot", und jetzt ist auch der Begriff „digitale Demenz“ ein neuer Begriff. Als Forscher wollten wir wissen, ob das stimmt", wird Michael K. Scullin in dem Onlinemagazin News-Medical zitiert.
Studien untersuchen mehr als 400.000 Menschen
Dafür untersuchten die Forscher 136 Studien und verglichen Daten von 411.430 Menschen, die zu Beginn der Studien mindestens 50 Jahre alt waren. Dabei waren 53,5 Prozent der Teilnehmenden weiblich, das durchschnittliche Alter betrug 68,7 Jahre. Die Metaanalyse umfasste Querschnitts- und Längsschnittbeobachtungsstudien, die zwischen einem und 18 Jahren fortgeführt wurden.
Das Alter der Teilnehmenden spielte dabei eine wichtige Rolle. Wie die Wissenschaftler in ihrer Studie erklären, handelt es sich dabei um die ersten Generationen, die sich mit digitalen Technologien beschäftigten und mittlerweile das Alter erreicht haben, in dem Demenzrisiken entstehen.
Überraschende Ergebnisse
Die Ergebnisse der Studie widerlegten die Theorie der "digitalen Demenz". Bei den untersuchten Personen soll die Nutzung digitaler Medien stattdessen das Risiko einer Demenz-Erkrankung um 58 Prozent gesenkt haben. Die Forscher erklärten, dass selbst, nachdem sie Faktoren wie den sozioökonomischen Status, Bildung, Alter, Geschlecht, kognitive Grundfähigkeiten, soziale Unterstützung, allgemeine Gesundheit und die Teilnahme an geistigen Aktivitäten wie Lesen ausgeschlossen haben, dasselbe Muster bestehen blieb.
Laut Scullin seien die Ergebnisse für viele überraschend, weil die Nutzung digitaler Medien eher mit körperlich und geistiger Bewegungsarmut assoziiert werden. Weil es sich aber bei den untersuchten Personen um Menschen handelte, die die Technologien erst im erwachsenen Alter erlernen mussten, stellte der Umgang mit ihnen eine kognitive Herausforderung dar. Somit könne man diesen Lernprozess mit Prozessen wie dem Laufen, Lesen und Schreiben lernen vergleichen. Zudem reiche es laut dem Forscher nicht, die Technologien einmal zu verstehen. Stattdessen müsse man sich ihnen ständig anpassen, da sie sich dauerhaft verändern und entwickeln. Dies sei ein Training für das Gehirn.
Weitere Aspekte beeinflussen das Ergebnis
Die Neurowissenschaftler nennen aber auch weitere Gründe, die für den positiven Zusammenhang der Internetnutzung und der kognitiven Fähigkeiten verantwortlich seien. So haben ältere Menschen dank der Technologien heute die Möglichkeit, mit ihrer Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben. Selbst wenn sie nicht mehr oft aus dem Haus gehen können, gäbe diese Tatsache ihnen die Möglichkeit, sich sozial zu interagieren, so die Wissenschaftler.
Wenn aber bereits ein kognitiver Abbau stattfindet, sollen digitale Medien älteren Menschen als Unterstützungssystem dienen. So seien Funktionen wie Online-Banking, Navigatoren auf dem Handy, digitale Erinnerungen, Kalenderfunktionen und ähnliches, ein Weg, Menschen, die bereits anfangen zu vergessen, zu unterstützen.
Die Studie zeigt jedoch nur, wie sich die Nutzung digitaler Medien auf die kognitiven Fähigkeiten von Menschen auswirkt, die erst im erwachsenen Alter angefangen haben, die Technologien zu nutzen. Daraus lässt sich aber nicht schließen, wie sich diese Nutzung auf jüngere Generationen und vor allem auf die sogenannten "Digital Natives" auf Dauer auswirken wird.