
Vielleicht haben auch Sie, wenn Sie den Begriff "ADHS" hören, das Bild eines zappeligen, hyperaktiven Jungen im Kopf, der nicht still sitzen kann. Dabei betrifft ADHS oder die Variante ADS weder nur Jungen noch nur Kinder – die Krankheit wächst sich nicht aus und beeinflusst das Leben auf vielen Ebenen.
Zu ADHS/ ADS gibt es noch viele Vorurteile
Wie, dazu haben wir uns mit Dr. Tanja Richter-Schmidinger unterhalten. Sie ist Diplompsychologin der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik des Uni-Klinikums Erlangen und leitet dort unter anderem die ADHS/ADS-Sprechstunde – bereits seit 16 Jahren. Sie verrät, was hinter der Erkrankung steckt, wie man vorgehen kann, wenn man sich in Symptomen wiedererkennt und welche positiven Seiten die Erkrankung mit sich bringt.
Frau Richter-Schmidinger, die Erkrankung ADHS/ADS bekommt aktuell viel Aufmerksamkeit – unter anderem auf den Sozialen Medien. Wie viele Menschen betrifft die Erkrankung tatsächlich?
ADHS gibt es schon lange – einen Anfangspunkt kann man gar nicht festlegen, weil die Erkrankung früher nicht als solche benannt wurde. Aber dass ADHS mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit bekommt, kenne ich, und das hängt immer ein Stück weit mit der Medienpräsenz zusammen.
Genaue Zahlen gibt es nicht, weil die Dunkelziffer hoch ist und davon abhängt, wie gemessen wird. Aber man geht davon aus, dass 4,5 Prozent der Erwachsenen ADHS/ADS haben. Bei Kindern ist ADHS/ADS die häufigste psychische Erkrankung und man hat auch festgestellt, dass bei ungefähr zwei Dritteln der Kinder mit einer ADHS-Diagnose eine relevante Symptomatik im Erwachsenenalter fortbesteht – es wächst sich also nicht aus, wie früher oft angenommen wurde.
Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede? Sind mehr Männer oder Frauen von ADHS/ADS betroffen?
Sicher weiß man, dass, seit bei Kindern ADHS/ADS-Diagnostik betrieben wird, das Verhältnis 3:1 ist – 3 Jungen, ein Mädchen. Das liegt daran, dass Jungen öfter ADHS haben, damit zu Hyperaktivität neigen und auffälliger sind. Bei Mädchen liegt öfters eine ADS vor - sind also eher der verträumte, damit weniger auffällige und unterdiagnostizierte Typ. Dieses Missverhältnis gleicht sich dann aber zum Erwachsenenalter hin aus – da ist die Verteilung relativ gleich.
Es gibt auf Instagram oder TikTok viele Beiträge und Kurzvideos, die zu ADHS/ADS-Symptomen aufklären. Welche Gefahren birgt das, wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Bei ADHS ist die größte Gefahr, dass man sich schnell in den Symptomen wiederfindet, weil sie sehr viele Aspekte hat. Dazu gehört unter anderem neben Unkonzentriertheit oder Unruhigsein, auch – und das ist grade hoch im Rennen – die Prokrastination dazu. Fast jeder kann sich mehr oder weniger in ADHS/ ADS wiedererkennen. Aber das Gesamtbild macht dann die Diagnose aus.
Und wer sich schon im Vorfeld in einer Diagnose wiederfindet und dann zu hören bekommt, "Nein, das ist es nicht", für den ist es oft schwierig, sich umzuorientieren – und das frustriert. Zweitens besteht natürlich die Gefahr, dass Informationen nicht immer stimmen, aber unreflektiert übernommen werden. Auf der anderen Seite hilft diese Präsenz, die Krankheit sichtbarer zu machen und gibt Betroffenen das Gefühl, nicht alleine zu sein. Dadurch sinkt auch die Hemmschwelle, zum Arzt zu gehen und das ist ein positiver Effekt. Die mediale Sichtbarkeit ist in den vergangenen Jahren auch ein immer häufigerer Vorstellungsgrund in Praxen geworden.
Es herrscht häufig die Annahme, dass ADHS/ADS nur Kinder betreffe und sich das irgendwann auswächst. Warum ist das nicht der Fall?
Die Symptomatik – in dem Sinne, dass sie Schwierigkeiten macht – kann sich im Laufe des Lebens schon verändern. Das kann dann den Anschein erwecken, dass die Krankheit verschwunden ist. Oft ist es nämlich so, dass zum Beispiel Menschen, die als Kind sehr zappelig und unruhig waren, als Erwachsener viel ruhiger erscheinen. Die haben dann ihre Unruhe entweder nach Innen verlagert, in Form von innerer Rastlosigkeit, oder aber Methoden gefunden, geschickt damit umzugehen. Zum Beispiel mit viel Sport oder einem Beruf, der stark fordernd ist – auch in Form von Bewegung. Verschwinden kann ADHS deshalb nicht, weil es sich dabei um ein Durcheinander von Botenstoffen im Gehirn handelt – hauptsächlich stehen Dopamin, Serotonin und Noradrenalin in einem Missverhältnis. Und das reguliert sich nicht mit dem 18. Geburtstag.
Ein Durcheinander von Botenstoffen – können Sie genauer erklären, was hinter ADHS/ADS steckt und wie es sich äußern kann?
Es ist eine Verhaltens- und emotionale Störung, die bereits im Kindesalter auftritt. Man weiß, dass es eine Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit, Aktivitätslevel und Impulsivität ist und dass das Ganze das Erleben und Handeln, das Interagieren und damit die Kommunikation beeinflusst. Und das nicht nur in Leistungs- sondern jeglichen Lebenssituationen. ADHS ist konkret die Abkürzung für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung.
Worin unterscheiden sich ADHS und ADS?
ADHS und ADS unterscheiden sich im Bereich Aktivität: Bei ADHS kommt eine Hyperaktivität hinzu, bei ADS wird eine Hypoaktivität diagnostiziert und das H in der Bezeichnung weggelassen. Hyperaktivität kann sich auf zwei verschiedene Arten zeigen: Durch eine sichtbare motorische Unruhe und großen Bewegungsdrang – zum Beispiel zappelige Beine oder nicht stillsitzen können - oder aber eine innere Rastlosigkeit. Betroffene fühlen sich dann getrieben, haben oft Schwierigkeiten beim Einschlafen und der Kopf fühlt sich an wie eine Popcornmaschine, in dem ständig neue Gedanken aufploppen, die dann nicht richtig nachverfolgt werden können.
Hypoaktiviät, die ADS ausmacht, zeichnet sich eher durch eine verlangsamte Motorik aus: Betroffene sind eher der verträumte Typ, sie fühlen keine Unruhe, sondern es passiert eher, dass sie sich mal auf der Couch vergessen, weil sie ihren Gedanken nachhängen.
Ansonsten ähneln sich die Symptome aber?
Genau. Immer ein Teil von beiden Ausprägungen ist die Störung der Aufmerksamkeit: Schnell ablenkbar sein, Reize schlecht filtern können, schnell überfordert sein, Gesprächen auf Dauer nicht gut folgen können. Bei beiden hat man außerdem Probleme mit dem Zeitmanagement, Organisieren und Priorisieren. Sie springen oft von einem To-Do zum anderen und werden nicht fertig, auch Prokrastinieren gehört dazu.
Zu Symptomen im emotionalen Bereich gehören schneller eintretende Langeweile, Gereiztheit und Genervtheit, Betroffene werden schnell wütend, laut und verletzend, Streits eskalieren eher. Die Impulsivität ist bei ADS-Betroffenen meist weniger ausgeprägt, ansonsten sind die Symptome dieselben. Die Symptomverteilung von ADHS und ADS unterscheidet sich nur marginal.
Wenn ich solche Symptome bei mir erkenne: Wann sind es zum Beispiel keine "normalen" Konzentrationsprobleme mehr – wann sollte ich zum Arzt gehen?
Tatsächlich ist das nicht so leicht zu beantworten. Ausschlaggebender Grund für einen Arztbesuch ist aber der, dass der Leidensdruck zu groß wird – der eigene oder der der Menschen um den Betroffenen herum. Wenn ich merke, ich habe Probleme meinen Alltag zu meistern, und diese Probleme sind nicht vorübergehender Natur, dann sollte ich untersuchen lassen, ob es dafür einen bestimmten Grund gibt, gegen den ich etwas unternehmen kann.
Ist der Hausarzt dann der richtige Ansprechpartner?
Der eigene Hausarzt ist als zentrale Stelle immer eine gute Idee. Diagnostizieren kann er eine ADHS/ ADS in der Regel allerdings nicht. Wenn er ADHS/ ADSwohlwollend gegenübersteht – nicht jeder Arzt tut das leider – vermittelt er aber an die richtigen Stellen weiter. Leider gibt es nach wie vor auch im medizinischen Bereich Praktizierende, die die Erkrankung nicht ernst nehmen und empfehlen, sich "einfach" anders zu strukturieren oder effizienter zu arbeiten.
Genau das kann oft problematisch sein und frustriert Betroffene, die den Mut gefasst haben, mit ihren Problemen zum Arzt zu gehen und dann nicht ernst genommen werden. Hier bitte unbedingt einen anderen Arzt aufsuchen und sich nicht entmutigen lassen. Helfen kann auch der Verein ADHS-Deutschland e.V.: Auf deren Online-Seite (https://www.adhs-deutschland.de/) werden seriösen Anlaufstellen aufgelistet, bei denen man sich auch als Erwachsener diagnostizieren lassen kann.
Es klang bereits an, dass eine Diagnose von ADHS/ ADS nicht ganz einfach ist. Wie läuft eine solche ab?
Es gibt eine Leitlinie, die Vorgaben macht und evidenzbasiert ist: Man hat sich also viele Studien angeschaut und hat dann im Kontext festgestellt, welche die beste Art und Weise ist, zu diagnostizieren und zu therapieren. Die Diagnose läuft anhand eines Ausschlussverfahrens ab - bei uns in zwei Terminen: Beim ersten wird ein Fragebogen-Set ausgefüllt. Dann wird entschieden, ob Symptome nachverfolgt werden, oder eine ADHS-/ADS-Diagnose schon ausgeschlossen werden kann.
Beim zweiten Termin wird ein störungsspezifisches Interview durchgeführt. Dabei wird gemeinsam durchgegangen, was auf ADHS oder ADS hindeutet. Wir schauen uns außerdem (ehemalige) Schulzeugnisse und Lehrerbeurteilungen an, es gibt Fremdbeurteilungen – zum Beispiel durch Elternteile oder Lebenspartner – und es wird der bisherige Lebensverlauf betrachtet. Diese Zusammenschau ermöglich die Diagnose, je mehr Infos desto besser gelingt es.
Und wie sieht die Behandlung aus? Muss ADHS/ ADS immer medikamentös behandelt werden?
Auch hier hilft die allgemeine Leitlinie. Ganz oben steht die Aufklärung über die Krankheit, sodass der Betroffene sich besser einordnen kann. Wenn ein Leidensdruck da ist, wird empfohlen, sich zumindest vorübergehend ein passendes Medikament – das die durcheinandergeratenen Botenstoffe wieder in ein Gleichgewicht bringt – verschreiben zu lassen. Ein solches steigert die Lebensqualität, verringert das Chaos im Kopf und man kann seine Kräfte besser einteilen.
Das wiederum kann man dann nutzen, um sich sein Leben etwas besser einzurichten und sich nicht-medikamentöse Techniken anzueignen, die einem persönlich helfen. Wie man dann weiter verfährt – ob man das Medikament ein Leben lang nehmen will oder nur in stressigen Phasen – bleibt jedem selbst überlassen. Das ist von Fall zu Fall eine sehr individuelle Entscheidung. Die Bandbreite dessen, was Betroffenen hilft, ist sehr groß, weil ADHS auch unterschiedlich ausgeprägt ist.
Welche Auswirkungen hat die Krankheit auf das Leben Betroffener?
Es herrscht viel Druck, bei vielen entstehen Selbstzweifel: Warum bin ich so vergesslich? Warum bin ich so impulsiv, fühle mich immer so gehetzt, schaffe es nie, Deadlines einzuhalten und streite so viel? Die Krankheit beeinflusst das gesamte Leben: Es gibt privat Probleme – zum Beispiel in der Beziehung – , berufliche Probleme – die Burnout-Gefahr ist größer und das fehlende Zeitmanagement verursacht Schwierigkeiten – und zieht oftmals weitere Erkrankungen nach sich beziehungsweise begünstigt deren Entstehung: Zum Beispiel Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Auch hier gilt aber: Die Auswirkungen sind sehr individuell ausgeprägt.
Gibt es auch besondere Stärken, die ADHS/ ADS-Betroffene haben?
ADHS/ ADS-Betroffene müssen oft improvisieren und sind häufig spontan und flexibel. Oft sind sie sehr kreativ, finden neue oder unkonventionelle Lösungswege – davon kann auch im beruflichen Kontext profitiert werden. Im Arbeitsumfeld ebenfalls sehr positiv wahrgenommen – oftmals aber leider auch ausgenutzt – wird der Hyperfokus. Damit ist die Fähigkeit ADHS-Betroffener gemeint, sich intensiv und teilweise auch weit über die Grenze hinaus, mit einem Thema zu befassen und alles andere drumherum zu vergessen. Menschen mit ADHS sind häufig sehr interessante Personen und es wird selten langweilig. Meist sind sie in der Regel sehr ehrlich, weil sie das Herz auf der Zunge tragen und wenn man damit umgehen kann, ist auch das eine sehr positive Eigenschaft.
Wie kann ich als Angehöriger eines ADHS/ ADS-Betroffenen mit der Erkrankung umgehen?
Auch das ist nicht einfach zu beantworten. Viele versuchen schon ganz intuitiv, das aufzufangen, indem sie Aufgaben übernehmen, die dem ADHS/ ADS-Betroffenen schwerfallen – zum Beispiel Terminplanung und Briefverkehr. In Bezug auf Streitsituationen ist sinnvoll ist, diese rechtzeitig abzubrechen. Denn es sind oft die gleichen Reizpunkte, die zu keinem Ergebnis führen – das ist natürlich leichter gesagt als getan.
Humor hilft, ist aber auch nicht leicht umzusetzen. Wichtig ist es auch, sich immer wieder bewusst zu machen: ADHS ist zwar eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, selbst als Angehöriger zu wissen, was die Krankheit mit sich bringt und wie sie sich auswirken kann, hilft auf jeden Fall.
Haben Sie zum Abschluss noch einen Tipp für Betroffene?
Mein Tipp ist es, die positiven Seiten der ADHS/ ADS auszukosten und rechtzeitig die Notbremse zu ziehen, wenn man merkt, es geht nicht mehr und der Leidensdruck ist zu groß. Und wichtig ist: Wenn die Diagnose gestellt ist und man anfängt, das Leben neu zu ordnen und zu überdenken, dann kommt man unweigerlich zu der Frage: Was wäre gewesen, wenn die Diagnose früher gestellt worden wäre? Und diese Gedanken haben zwar ihre Berechtigung, führen aber nirgendwo hin, außer zu Frust. Lieber die Energie dazu zu nutzen, das Leben jetzt, mit neuen Möglichkeiten nach der Diagnose eigenmächtig besser zu gestalten und nicht zu sehr in der Vergangenheit zu hängen.