
Träumen muss erlaubt sein. Als Sportler sowieso. Sebastien Thill hat sich auf seiner linken Wade ein Bild des Champions-League-Pokals unter die Haut stechen lassen, daneben sieht man: Sebastien Thill. Das ist für jeden Berufsfußballer eine kühne Vision, erst recht wenn seine letzten Vereine CS Petingen, Progres Niederkorn und FK Tambow heißen. Thill ist Luxemburger und seit Dienstagabend einer breiteren Öffentlichkeit bekannt als wohl jeder Luxemburger Fußballer zuvor: In der 89. Minute traf Thill für Sheriff Tiraspol traumhaft schön zum 2:1-Sieg gegen Real Madrid. Im Bernabeu-Stadion, in der Champions League.
Natürlich ist das nicht weniger als ein Fußball-Wunder. Wer vorab auf den krassen Außenseiter aus Moldau getippt hatte, erhielt je nach Wettanbieter das 22- bis 24-Fache seines Einsatzes zurück, der geschätzte kumulierte Marktwert der königlichen Profis von Real Madrid ist mit 793,50 Millionen Euro gar 64 Mal so hoch wie der des Davids, der den Goliath so spektakulär zu Fall brachte.
Dabei lässt sich mittlerweile als Berufsfußballer auch in Moldau gutes Geld verdienen, sofern man denn Tiraspol dazuzählen möchte. Die 150 000-Einwohner-Stadt ist das Zentrum des De-facto-Regimes Transnistrien, einer Region, die schon seit Jahrzehnten unabhängig von der Verwaltung in Moldaus Hauptstadt Chisinau agiert, mit einer eigenen Regierung, eigenem Militär und sogar einer eigenen Währung. Wirtschaftlich wird die Region von der Sheriff Holding kontrolliert, laut einer Recherche der Nowaja Gazeta, die die SZ zitiert, kontrolliert der Konzern, der dem fußballerischen Stolz Tiraspols einen Namen und jede Menge Geld gibt, 60 Prozent der Wirtschaft – darunter Supermärkte, Tankstellen, Spirituosenfabriken, Großbäckereien, das Mobilfunknetz sowie Fernsehsender und andere Medien. Sheriff ist der Sheriff in Transnistrien.
Die westliche Welt beäugt das Gebaren in der Region kritisch, in einem Delegationsbericht des europäischen Parlaments aus dem Jahr 2002 ist von einem "schwarzen Loch in Europa, in dem illegal mit Waffen und Menschen gehandelt und Geld gewaschen werde", die Rede.
Und jetzt: die Liga
Die nun auch international erfolgreichen Fußballer sind der Region ein willkommenes Aushängeschild, auf nationaler Ebene gibt es ohnehin keine Konkurrenz mehr: Nur zweimal in den letzten 21 Jahren hieß der Meister in Moldau, der am Dienstagabend übrigens keinen einzigen moldauischen Spieler eingesetzt hat, nicht Sheriff Tiraspol.
"Wir müssen auf dem Boden bleiben und uns jetzt wieder auf die Liga konzentrieren", floskelte Sebastien Thill wenige Minuten nach dem Tor seines Lebens in ein Mikrofon, ein bisschen wirkte er dabei wie in Trance. Nach zwei Spieltagen führt sein Team die Gruppe D der Champions Leaegue an, drei Punkte vor Real Madrid, fünf vor Inter Mailand, sechs vor Donezk. Ein Bild wie gemalt. Oder tätowiert.