
Ob er noch große Wünsche hat? William C. Freund lächelt, ja, sagt er, er würde gerne noch fünf Jahre leben – und danach über weitere fünf verhandeln. William C. Freund würde, denkt man, diese Verhandlung mit wem auch immer gewinnen, er ist ein sehr warmherziger, charmanter und humorvoller Mensch, auf eine Weise, die einen sofort berührt.
Er sitzt an seinem Schreibtisch in New Jersey, er hat sich, sagt er, sehr auf dieses Gespräch gefreut, er begrüßt den Besucher so ansteckend herzlich, dass man beinahe vergisst, dass man nur über eine Videoschaltung verbunden ist. Die technische Vorbereitung hat er selbst übernommen. William C. Freund ist 95 Jahre alt.
Vor 84 Jahren, sagt er, wäre das nicht gegangen, so einfach per Knopfdruck nach Amerika. Amerika war 1937 die letzte Hoffnung für die Familie Freund, die in Nürnberg wohnte, Scheurlstraße 23. William C. Freund ist viel später zurückgekehrt, dorthin, wo er am 4. September 1926 als Kurt Wilhelm Freund zur Welt kam. Er hat Nürnberg öfter besucht, auch mit den Kindern und Enkelkindern, "auf der Suche nach meiner Kindheit", wie er sagt – "aber ich habe sie leider nicht gefunden, nie".
Seine Kindheit. Das waren Hakenkreuzfahnen, braune Uniformen, die Reichsparteitage. Jüdische Kinder, erzählt er, trauten sich nicht mehr zum Spielen auf die Straße. "Saujude" haben ihn andere Kinder genannt, die Volksschule hatte er verlassen müssen, er hatte Angst, wenn er mit der Straßenbahn zur jüdischen Schule nach Fürth fuhr.
Das Trauma der Sandkiste
Einmal haben sie ihn in eine Streusandkiste gesperrt, den Deckel abgeschlossen, es dauerte lange, bis jemand das Kind befreite. Die Dunkelheit, die Atemnot. "Ich kann bis heute keine Kleidung tragen, die über den Kopf geht, ich konnte nie einen Pullover anziehen", erzählt er.
Den Kaufmann Hugo Freund, seinen Vater, hatte ein Nazi-Mob auf einen Sportplatz geschleppt, geschlagen, gedemütigt, gequält. "Wir waren so deutsch, erst Deutsche, dann Juden", sagt William C. Freund, dessen Vorfahren mindestens seit 1773 in Franken lebten, das hat seine Tochter Nancy recherchiert. Die Freunds kamen wohl schon im 17. Jahrhundert, von der Inquisition aus Spanien vertrieben. "Aber jetzt durften wir keine Deutschen mehr sein, wir wussten, dass wir nicht bleiben können."
"Sonst wären wir in Auschwitz gestorben"
Hugo Freund schrieb einen Expressbrief nach New York, wo ein Cousin lebte – Louis Joseph, ein Engel, den die Freunds bis dahin nur aus der Ferne, nicht persönlich kannten, er half damals vielen jüdischen Familien. "Ich hoffe, er hat einen besonderen Platz im Himmel", sagt William C. Freund, "ohne ihn würden wir uns jetzt nicht unterhalten, ich wäre mit der ganzen Familie in Auschwitz gestorben."
Es begannen Wochen des Wartens in Todesangst, aber der Cousin konnte ein Visum vermitteln, mit nicht viel mehr als nichts kamen Hugo und Paula Freund, geborene Grünstein, mit ihren Kindern Kurt und Margot in New York an. Dass die Mutter einen unsichtbaren Schatz dabei hatte, ahnten die Kinder nicht.
Neubeginn als Schuhputzjunge
Der Vater fand Arbeit in einem Hospital, er wusch Leichen, die Mutter arbeitete in einer Lippenstiftfabrik. Kurt putzte auf der Straße Schuhe, für einen Nickel, fünf Cent. "Sehr stolz" sei er darauf gewesen, zum Unterhalt beitragen zu können, sagt der freundliche Mann am Schreibtisch. Später war er 20 Jahre lang der Chef-Ökonom der New Yorker Börse, Professor für Wirtschaftswissenschaften – "und Amerikas Lebkuchen-Experte", sagt er und lacht.
Die Lebkuchen, der Schatz der Mutter, gehören sehr zu diesem Leben. Ein Nachbar in Nürnberg war Konditor bei der Firma Haeberlein und Metzger, er hatte Paula Freund nicht nur das Geheim-Rezept für die Elisen-Lebkuchen verraten, sondern auch mit ihr gebacken, in der Scheurlstraße 23. Das deutsche Wort hat der Sohn gerade wieder herausgesucht, "Schmiergeld", sagt er lächelnd, habe der Konditor wohl bekommen. Paula Freund lernte alles auswendig, ein schriftliches Rezept ist nie aufgetaucht.
Der erste eigene Laden
Nürnberger Lebkuchen waren schon bekannt in New York, besonders in Washington Hights, dem deutsch-jüdischen Viertel, in dem die Freunds ihre erste Wohnung fanden. Aber mit dem Kriegseintritt der USA war der Import beendet. Paula Freund begann zu backen, daheim in der kleinen Küche, erst für die Nachbarschaft, dann für Konditoreien und Warenhäuser.
Ein ausführlicher Artikel im "Herald Tribune" machte die Stadt auf diese fleißigen Deutschen aufmerksam, die Freunds eröffneten einen Laden, "Paula’s Lebkuchen" – mit den Eltern in der Backstube und dem Sohn im Büro.
Verpackung bitte mitessen
Nürnberger Lebkuchen wurden noch viel bekannter, aber, erzählt William C. Freund, "die meisten Amerikaner kannten die Oblaten nicht – die haben sie für die Verpackung gehalten und entfernt". Sie haben dann "Verpackung essbar" auf die Dosen geschrieben.
"Mein Leben hat traumatisch begonnen, in Amerika habe ich dann großes Glück gehabt", sagt William C. Freund, "aber Bäcker wollte ich nie werden." Als der Vater 1950 starb, verkauften sie die Bäckerei. Kurt Wilhelm Freund, der jetzt William C. Freund hieß und an der Columbia-Universität Wirtschaftswissenschaften studierte, hatte gerade Irmgard Steinberger kennengelernt, die, aus Hessen über Palästina geflohen, jetzt Yehudit, später Judith hieß. Auch Namen erzählen Geschichten. Sie sprachen kein Deutsch miteinander, "das war verpönt". Vor elf Jahren starb seine Frau an Krebs, 60 Jahre lang waren sie verheiratet, "und 60 Jahre lang glücklich".
Eine Box für die Enkelin
Drei Kinder kamen zur Welt, Deena Paula, eines der vier Enkelkinder, bekam die letzte alte Dose aus dem Lebkuchen-Laden ihrer Urgroßeltern geschenkt. Sie liebt sie, und eine Geschichte, sagt der Professor, würde er gern noch erzählen, die von Sandy Lee. Sie hatte Nürnberg besucht, sie kannte die Geschichte der Freunds, sie hatte eine Idee und bat um Hilfe. Der Lebkuchen-Experte half gerne – "natürlich ehrenamtlich", wie er sagt, als Berater. Seit 2011 gibt es die "Leckerlee", Nürnberger Lebkuchen, gebacken in New York – wie über 60 Jahre zuvor. William C. Freund strahlt, wenn er davon erzählt.
"Mein Dad ist ein Kind geblieben", sagt Nancy Heller Freund, die Tochter hat sich zugeschaltet. Ja, sagt der Vater, das stimme wohl, er erinnert sich an ein Kinderbuch, das er damals, in Nürnberg, gelesen hat, "Emil und die Detektive" von Erich Kästner: Um ein guter Mensch zu sein, muss man seine Kindheit in sich behalten, heißt es darin. Wie er es geschafft hat? "Vielleicht, weil ich keine Kindheit hatte" – Kind sein, überlegt er, durfte er erst, als er erwachsen war.
Die Tochter lernt jetzt Deutsch
Den deutschen Pass, den ihm das Konsulat nach dem Krieg anbot, wollte William C. Freund nicht haben, aber seine Kinder und zwei Enkelkinder haben neben US-amerikanischen auch deutsche Pässe. Nancy hat jetzt Deutsch gelernt, das freut ihren Vater, der die Geschichte seines langen Lebens ohne jede Spur von Verbitterung erzählt. Kurt, überlegt er, "eigentlich war es ein schöner Name". "Ich habe die frühen Jahre ziemlich gut verdaut", sagt er. Die Familie, der berufliche Erfolg, er ist, sagt er, ein sehr glücklicher, dankbarer Mensch.
Er spricht deutsch, fließend – mit einem ganz feinen fränkischen Akzent, das hat etwas sehr Rührendes. Auf Einladung des Jüdischen Museums hat er in Berlin vor Schülern und Studenten gesprochen, herzlich, sagt er, seien die Begegnungen gewesen – zurück flog er mit dem Gefühl, "dass das heute alles Geschichte ist, wie Napoleon, wie Bismarck". Er macht eine kurze Pause. "Es gibt nur noch wenige von uns – alles zu erzählen, sehe ich als eine Verpflichtung an."
Ein kalter Lufthauch
Das Haus in der Scheurlstraße 23 steht noch, heute findet sich eine Gedenktafel an der Fassade – nicht für die Freunds. Wer sie liest, spürt unwillkürlich einen kalten Lufthauch. Die Tafel erinnert an den ersten versuchten Mordanschlag der Neonazi- Terrorbande, die sich "NSU" nannte. Hier, in der Kneipe im Erdgeschoss, die damals Sonnenschein hieß, verletzte am 23. Juni 1999 ein Sprengsatz einen 18 Jahre alten Jugendlichen lebensgefährlich.
Ob er das wusste? William C. Freund erschrickt. Nein, sagt er, vielleicht können Sie mir ein Bild schicken? Er schickt ein Bild zurück, mit Nancy, am 95. Geburtstag. Wie er heute auf Deutschland blickt? "In einem gewissen Sinne ist es noch Heimat", sagt William C. Freund, "aber dass es wieder die Rechten in Parlamenten geben würde, das habe ich geglaubt, nicht mehr erleben zu müssen."







