
Der Ball ist – nein, nicht rund. Sondern ein Kuboktaeder, zwölfeckig und zweifarbig. Der Spieler, dessen Farbe oben liegt, darf kicken. Es gibt nur zwei gut daumengroße Feldspieler auf dem Platz und zwei Torhüter, ansonsten ist fast alles wie beim Fußball. Es ist ein großer Spaß. Und eine sehr ernste Sache.
Eine erstaunliche Erfolgsgeschichte ist es auch. Denn Tipp-Kick gibt es noch immer – seit nun 100 Jahren, es war der Stuttgarter Möbelhändler Karl Meyer, der das Tischfußballspiel am 15.September 1921 als Reichspatent Nummer 387569 anmeldete.
Tipp-Kick statt Indien
Drei Jahre später freute sich der Exportkaufmann Edwin Mieg aus Schwenningen schon darauf, die indische Niederlassung des Uhrenhändlers Junghans zu übernehmen – als er den Posten doch nicht bekam, sattelte er um auf Spielzeug.
Mieg erwarb Meyers Patent im Jahr 1924, baute es zur Marktreife aus und stellte es – weil ihm das Geld für einen eigenen Stand fehlte – 1926 auf der Treppe vor dem Eingang zur Leipziger Spielwarenmesse vor. Ehe ihn die Ordner verscheuchten, hatte er ein paar hundert Spiele verkauft.
Mit dem Fußball, der gerade das Laufen gelernt hatte, wurde die Version für den Küchentisch populär, weil in der Spielzeugstadt Nürnberg mit dem Club auch die mit Abstand beste Mannschaft des Landes spielte, war Franken ein erster bedeutender Tipp-Kick-Marktplatz (und ist es trotz des Ruhmverlustes des 1.FCN dank der Spielwarenmesse bis heute).
Der Torwart heißt Toni
"Es ist ein einfaches, leicht verständliches Spiel für alle, das machte von Anfang an den Erfolg aus", sagt Matthias Mieg. Er ist der Enkel von Edwin Mieg und leitet heute mit seinem Cousin Jochen die kleine Familienfirma in Villingen-Schwennigen am Rande des Schwarzwaldes, deren einziges Produkt sich in 100 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Ein Knöpfchen auf dem Kopf der Spielfigur bewegt das rechte Bein, dem Schuss stellt sich ein Torwart entgegen, der seit 1954 mit zwei Knöpfchen gesteuert wird und Toni heißt – nach Toni Turek, dem deutschen Weltmeistertorwart.
Das Wunder von Bern, der überraschende deutsche WM-Triumph, bescherte Tipp-Kick 1954 mit 180 000 verkauften Spielen einen erst mit der WM 2006, dem deutschen Sommermärchen, noch übertroffenen Erfolg, damals waren es über 200 000 verkaufte Spiele. Läuft es gut für den deutschen Fußball, läuft es auch gut für Tipp-Kick, Krisenjahre erlebte die Firma mit den großen Fußball-Krisen: 1971, als der Manipulationsskandal die Bundesliga erschütterte, 1978 mit der Schmach von Cordoba, dem deutschen WM-Aus gegen Österreich, und 1994, als Stefan Effenberg dem Publikum den Stinkefinger zeigte.
Die DDR klaute das Spiel
Es hat viele Mitbewerber gegeben, Fußball- und Eishockey-Tischspiele, in der DDR vertrieb der VEB Metaplast Quedlinburg ein offensichtliches Plagiat mit dem schlicht-sozialistischen Namen "Fußballspiel für Jung und Alt" – mit Plastik-Kickern, denen es an der nötigen Härte fehlte. Die Zeiten überdauert hat nur das vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz beliebte Original mit den Männchen erst aus Blech, später aus Blei und heute aus Zink.
Auch der von Kennern geschätzte, leicht melancholische Gesichtsausdruck hat sich in 100 Jahren kaum verändert. Aber mit Einführung der Fußball-Bundesliga 1963 gab es die handbemalten Männchen erstmals in den Trikots der Vereine, zur WM 2010 stellte die Firma den ersten personalisierten Kicker vor, eine Zinkfigur des wuschellockigen Brasilianers Dante, der, anders als im richtigen Leben, aber mit dem rechten Fuß schießen muss – wie alle Tipp-Kicker, für Linksfüßler, erklärt Matthias Mieg, gebe es keinem Markt. Mit der Frauenfußball-WM 2011 in Deutschland betrat die erste weibliche Figur den grünen Filzbelag des Spielfelds – erfolgreich trotz "sehr wenig Oberweite", wie Birgit Kischner gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung rügte, sie hätte sich die namenlose Figur, in Fachkreisen Tippse genannt, etwas femininer gewünscht.
Rund-, Spitz- und Klumpfuß
Die Allgäuerin gehört zu den besten Tipp-Kickerinnen im Land und ist damit noch immer eine Exotin. Der seit 1959 vom Deutschen Tipp-Kick-Verband organisierte Spielbetrieb ist seit jeher Männersache, und an der Technik wird im Wortsinn gefeilt, wenn Profis spielen. Ab Werk gibt es, auch wie im richtigen Fußball-Leben, den Rundfuß, den Spitzfuß und den Klumpfuß (den deutschen Rumpelfuß nicht), aber ambitionierte Tipp-Kicker, erklärt Peter Funke, feilen sich ihre Spezialisten zurecht, manche Edelstahl-Prothesen sind technische Meisterwerke.
Der 60 Jahre alte Münchner ist der Präsident des Deutschen Tipp-Kick-Verbandes, leider, sagt er, fehle es inzwischen an Nachwuchs. "Wir profitieren wenig davon, dass weiterhin so viele Tipp-Kick-Spiele verkauf werden", erklärt Funke, der früher selbst in der 1973 gegründeten Bundesliga tipp-kickte. "Der Spielbetrieb ist mit mir immer älter geworden", sagt er, das "Überangebot an Freizeitmöglichkeiten" und die "nachlassende Bereitschaft, Verpflichtungen in Vereinen einzugehen", bedrücke auch seinen Verband, der seit 1980 fast zwei Drittel seiner einst über 2500 Mitglieder verloren hat.
Der Rekordmeister? Aufgelöst
Concordia Lübeck, mit zwölf Titeln der deutsche Rekordmeister, löste sich inzwischen auf, "wenn man Tipp-Kick ernsthaft betreibt, ist es schon ein Aufwand", meint Funke – mit regelmäßigen Trainingseinheiten und langen Spieltags-Wochenenden. Zur Taktik gehört heute sogar Physik, Könner kicken so raffiniert, dass der eckige Ball auf der Komplementärfarbe rotiert – und bleiben damit im Spiel. Das sogenannte Farbspiel galt in der Szene als Revolution, als Triumph über den Zufall.
Die Frage, ob zu viel Taktik den Reiz erstickt, ist zumindest beim Tipp-Kick schon beantwortet – zugunsten der naiven Unschuld des Spiels. Die meisten Menschen spielen bloß zum Spaß und unterscheiden sich darin nicht von prominenten Fußballern wie den Brüdern Uli und Dieter Hoeneß oder Günter Netzer, die als große Tipp-Kick-Fans bekannt sind. Netzer ist auch unter Tipp-Kickern sogar Legende; das moderne Filmmärchen "Aus der Tiefe des Raumes", gedreht 2004 von Gil Mehmert, erzählt die Geschichte einer Tipp-Kick-Figur, die auf wundersame Weise menschlich wird – und nach und nach zu Netzer. Der geniale Standfußballer als Reinkarnation, als Seele des Spiels auf Rasen wie auf Filz: Filmkritiker und Tischfußballer waren gleichermaßen entzückt.
Enkel gegen Opa
Die friedliebenden Nachfahren der Zinnsoldaten werden, da ist man sich im Schwarzwald sicher, auch im digitalen Zeitalter weiter bestehen. "Ein die Generationen verbindendes Spiel", sagt Firmenchef Matthias Mieg, sei Tipp-Kick immer gewesen, "der Opa spielt es mit dem Enkel, mit dem er an der Computer-Konsole nicht mithalten könnte." Gegen den eigenen Opa hätte er zu gerne gespielt, leider, sagt er, lernte er ihn nie kennen. Edwin Mieg starb schon 1949, aber, sagt sein Enkel, "wenn er sehen könnte, was aus seinem Spiel geworden ist, wäre er begeistert".


