
Darf man Jesus süß finden? Die Antwort fällt leicht vor diesem Sandsteinkreuz am Ortsrand von Neunhof im Nürnberger Knoblauchsland. Fast keiner geht einfach daran vorbei. Es zeigt einen sehr verwitterten Gekreuzigten, auf dem Sandstein haben sich Moosflechten gebildet, ein hübscher Kontrast zu den Mohnblumen davor. In die plastische Ausgestaltung des Heilands kann man sich lange vertiefen. Lächelt er sogar? Viele Leute schauen genau hin. Ja, es ist ein süßer Jesus.
Wissenschaftlich würde man nicht so reden. Es handelt sich um das kunstgeschichtlich wertvollste Steinkreuz im Knoblauchsland, über 500 Jahre ist es alt, vermutlich ist es ein Devotionskreuz, kein Sühnekreuz. Der Unterschied ist, wie man noch lernen wird, interessant – und manchmal wird es dann ein bisschen gruselig.
Der Mann ohne Kopf
Devotionskreuze wurden zur Ehre Gottes aufgestellt, oft haben sich Sagen um sie gebildet, um dieses auch. Demnach soll ein junger Mann, verkleidet als Teufel, ein Mädchen auf dem nächtlichen Heimweg so erschreckt haben, dass es ihm mit dem Spinnrocken den Schädel einschlug. Für Jahrhunderte, als die Leute so etwas noch glaubten, spukte der Mann ohne Kopf durchs Knoblauchsland. Ein Gebet am Steinkreuz empfahl sich für furchtsame Naturen.
Man kann diese und viele andere Geschichten nachlesen, "und es wäre ja etwas langweilig, würde man sich nur auf historische Fakten beschränken", sagt Wilfrid Muscat. Er ist der Kassier der Nürnberger Gruppe des Frankenbundes, die diese Flurdenkmäler pflegt.
Auf dem Faltblatt neben den Denkmälern steht seine Telefonnummer, es kommt vor, dass Spaziergänger anrufen, weil sie mehr wissen wollen – oder sich einfach nur bedanken, so wie einmal ein 90 Jahre alter Mann aus Gleißhammer.
"Anhänglichkeit" zur Heimat
Sein Leben lang, schrieb er, sei er an der Sebaldusmarter vorbeigegangen, jetzt kenne er endlich die Geschichte – er spendete 200 Euro an den gemeinnützigen Verein, der 1920 in Würzburg gegründet wurde und sich seither, aktuell in 30 Ortsgruppen mit rund 7000 Mitgliedern, der ehrenamtlichen Heimatpflege verschreibt. Die Gruppe Nürnberg, offen für die Nachbarstädte, könnte in diesem Jahr sogar ein besonderes Jubiläum feiern, gegründet wurde sie vermutlich vor hundert Jahren, 1921 – nur weiß man es nicht genau, weil die Unterlagen verloren gingen.
Die Idee ist aber zeitlos. Eine "neue Liebe zur Heimat", eine, hübsches Wort: "neue Anhänglichkeit" stand als Leitbild schon im Gründungsprogramm – zu einer Zeit, als es für die Leute noch nicht ganz und gar üblich war, sich in Antalya besser auszukennen als zum Beispiel in Neunhof. Das "Bewusstsein um die gemeinsame Kultur", schrieb der Gründer des Bundes, der Würzburger Gymnasiallehrer Peter Schneider, gelte es über Geschichte, Kunst und Brauchtum, auch über Literatur, Mundart und Natur, zu fördern.
Was der Doktor Schneider Stammesbewusstsein nannte, heißt heute fränkische Identität. Heimattümelei war damit nie gemeint, ganz im Gegenteil, deswegen legen sie beim Frankenbund auch Wert darauf, nicht mit dem erst 1990 gegründeten Fränkischen Bund verwechselt zu werden – es geht nicht um Politik, nicht um einen fränkischen Separatismus. Der Frankenbund, auch im fränkischen Südthüringen und im baden-württembergischen Tauberfranken aktiv, versteht sich als überparteilich. Rückwärtsgewandt oder gar eifernd wirkt nichts an diesem Verein. Weg von Bayern? "Schmarrn", sagt Wilfrid Muscat, ihr Anliegen ist ein liebenswürdiges, starkes Franken im Freistaat.
Das geheimnisvolle Kreuznest
Vorträge, Kulturreisen, Thementage: Das Angebot ist vielfältig. "Wir freuen uns über jeden, der kommt – und natürlich über jeden, der Mitglied wird", sagt Muscat. Er ist 72 Jahre alt und seit über 40 Jahren dabei, damals verpflichtet vom Schwiegervater – "seine Tochter", erzählt er, "durfte ich aber schon vorher heiraten". "Ein Erb-Amt", erklärt der pensionierte Versicherungsfachwirt lächelnd, übe er als Kassier aus, sein Stellvertreter ist sein Sohn Wolfgang, der als Geocacher die Heimatliebe ins digitale Zeitalter trägt. Geocacher spüren versteckte Schönheiten über GPS-Koordinaten auf; "natürlich", sagt Wilfrid Muscat, "man entdeckt immer wieder Neues".
Rund 300 Mitglieder hat die Nürnberger Gruppe und "zu wenig Nachwuchs, wie jeder Verein", erklärt Muscat, der als junger Mann Fußball spielte, beim ASC Boxdorf und beim TSV Wendelstein. Junge Leute, das weiß er von sich selbst, interessieren sich weniger für Heimatkunde, und heutzutage hat selbst der Fußball als Freizeitvergnügen jede Menge Konkurrenz. Deshalb haben sie mit den "Freunden des Neunhofer Landes" fusioniert und gemeinsam den historischen Wasserturm in Tauchersreuth bei Lauf, ein technikgeschichtliches Denkmal, vor dem Abriss gerettet. Heute bieten sie dort Führungen an.
Der Mord von Neunhof
Die Denkmalpflege ist ein besonders schönes Beispiel für das Engagement des Frankenbundes, weil man am Wegrand viel lernen kann. "An den Denkmälern lässt sich Lust auf Geschichte wecken", sagt Wilfrid Muscat. Zwischen Neunhof mit seinem malerischen Patrizierschlösschen und dem benachbarten Kraftshof – man blickt auf die herrliche Wehrkirche – steht eine Formation mit dem die Fantasie beflügelnden Namen Steinkreuznest. Vier Sandsteinkreuze flankieren einen über drei Meter hohen Bildstock, es ist ein Sühnemal von etwa 1435, das älteste im Großraum Nürnberg, dessen Vorgeschichte urkundlich belegt ist.
Ein Heinz Ringmann aus Neunhof erschlug hier Hans Morder, einen Bauern aus Kraftshof – mit welchen Folgen, steht im Wöhrder Gerichtsbuch des "Amtes der Vesten" nachzulesen, recherchiert hat es Hermann Rusam. Der emeritierte Professor der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg ist ein renommierter Heimatkundler, und so lernt man: Im Mittelalter war der Totschlag im Affekt noch eine Privatangelegenheit, über deren Folgen sich der Täter mit den Hinterbliebenen einigen konnte. Zur Sühne konnte allerhand gehören, Geldbußen, Seelenmessen, Wachsspenden an die Kirche, der Schwur, das Wirtshaus zu verlassen, wenn es ein Hinterbliebener betritt – und Sühnekreuze.
Der Leichnam im Kamin
Kam kein solcher Vertrag zustande, griff die Blutrache, tatsächlich wurde der Leichnam des Opfers oft so lange zum Ausräuchern in den Kamin gehängt, bis sie vollzogen war – dem schaurigen Gebaren machte erst die Halsgerichtsordnung des Kaisers Karl V. von 1533 ein Ende, Staat und Kirche regelten die Gerichtsbarkeit. Wer durchs Knoblauchsland spaziert, erlebt den Weg vom Mittelalter in die Neuzeit.
Die Schautafeln dazu gestaltet der Frankenbund, Hermann Rusam verfasst die Texte, die Gestelle fertigt unentgeltlich der Schmiedemeister Dieter Lindner aus Buch an, die Stadt stellt sie auf. "Es müssen viele mithelfen", erklärt Muscat, der für Behörden- und andere Bittgänge zwar manchmal gute Nerven braucht, aber auch nette Freundschaften knüpft.
Und ein bisschen hilft auch Jesus mit. Über die Faltblätter an den Steinkreuzen gewinnt der Frankenbund immer wieder Mitglieder. Am verwitterten Devotionskreuz von Neunhof müssen sie die Blätter sehr oft nachfüllen.
(Den ersten Teil der Sommerserie finden Sie hier.)
