Nürnberg - Deutschland ist reich, aber zwei Drittel des Vermögens gehören nur zehn Prozent der Bevölkerung. Die Agenda der Regierung sieht vor, diese Ungleichheit zu beseitigen. Es geht auch um den sozialen Frieden. Dafür müssen wohl insbesondere die Reichen in die Pflicht genommen werden.

Wer reich ist, teilt mit den Armen und gibt dafür die Hälfte seines Vermögens. Nicht freiwillig, auf Anordnung des Staates, aber immerhin. Die Folge ist eine große Blüte, ein sogenanntes Wirtschaftswunder, eines, auf das niemand zu hoffen gewagt hätte. Allen geht es besser.


Kommentar: Deutschland hat sich mit der Armut abgefunden


Das ist keine romantische Utopie. Es passierte, in Deutschland, im August 1952. Das Lastenausgleichsgesetz des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, das sich auf "die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit" (so stand es in der Präambel) berief, verpflichtete die kleine Minderheit, der es nach dem Zweiten Weltkrieg gut ging, ihren Reichtum mit den Bedürftigen zu teilen – in einem Land voller sozialer Spannungen.

Erinnerungen an 1945

Im demoralisierten Deutschland lebten Millionen Flüchtlinge aus dem Osten, weitere Heimatlose, Displaced Persons, ehemalige Kriegsgefangene und vormalige KZ-Häftlinge. Ausgebombte Städter rebellierten gegen reiche Bauern, vereinzelt kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Die vor der Sowjet-Armee aus dem Osten geflüchteten Landsleute, diskreditiert als "Polacken", wurden sehr widerwillig aufgenommen, die Kriegs-Traumata heimgekehrter Soldaten spalteten Familien, die oft nur dank starker Frauen überlebt hatten. Man musste das Schlimmste befürchten auf diesem sozialen Minenfeld; die alliierten Besatzer waren auf einen Bürgerkrieg eingestellt, sie hatten Pläne dafür entwickelt, was in diesem Fall geschehen sollte.

Dass es gut ging, dass daraus die Bundesrepublik Deutschland wurde, ein erfolgreicher sozialer Wohlfahrtsstaat, ist im Rückblick eigentlich ein kleines Wunder.

Welchen Anteil Adenauers Zwangsumlage daran hatte, ist umstritten, die meisten Historiker glauben, dass sie eher eine dem sozialen Frieden dienliche psychologische Wirkung hatte. Das könnte jetzt, sieben Jahrzehnte später, wieder eine interessante Frage sein.

Die Zahl der Millionäre wächst

Aus Geschichte lässt sich wenig lernen, nicht in der Welt des 21. Jahrhunderts. Aber gut drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung hat dieser (ehemalige) Wohlfahrtsstaat, dessen Bevölkerung im Osten ärmer ist als die im Westen, erneut Millionen Flüchtlinge aufgenommen, etwa ein Fünftel seiner Einwohner arbeitet für Niedriglöhne, derweil die Zahl der Millionäre stetig wächst. Seit der Weltfinanzkrise 2008 hat sie sich (auf gut eineinhalb Millionen) etwa verdoppelt.

Unter den 17 Zielen ihrer Nachhaltigkeits-Agenda hat die Bundesregierung "Weniger Ungerechtigkeiten" als Punkt zehn notiert und nennt das "eine der großen Herausforderungen unserer Zeit", denn: "Große Ungleichheit gefährdet den Zusammenhalt von Gesellschaften." In Deutschland schockierte diese Zahl aus dem Paritätischen Armutsbericht von 2020: Mit 15,9 Prozent hatte die Armutsquote den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erlangt.

Die soziale Frage

Vor wachsenden sozialen Spannungen warnen heute Politiker, Ökonomen, Kirchenvertreter oder Sozialarbeiter fast jedweder Couleur – auch wenn die Meinungen darüber, wie es um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland bestellt ist, weit auseinandergehen. Gerechtigkeit ist kein messbarer Wert, was darunter zu verstehen sei, hat die Menschheit im Lauf der Geschichte, wenn überhaupt, höchst unterschiedlich definiert. Die sogenannte soziale Frage stellte sich erst mit dem Beginn der Industrialisierung vor 200 Jahren.

Das kapitalistische Manifest lautet, verkürzt: Gier ist geil. Geschrieben hat es der schottische Philosoph Adam Smith schon 1776, "Wohlstand der Nationen" heißt das Werk, das eines der einflussreichsten Bücher aller Zeiten ist. Smith behauptet, dass die stetige Gewinnmaximierung von Unternehmern zum kollektiven Wohlstand führt, weil Wachstum Arbeitsplätze schafft. Wachstum ist Wohlstand, heißt es seither, zu messen mit dem Bruttoinlandsprodukt.

Die Hälfte der Bevölkerung hat (fast) nichts

Es lag 1952 in Deutschland bei 69,75 Milliarden Euro, 2019, vor Beginn der Corona-Pandemie, war es im zehnten Jahr in Folge gewachsen, auf 3449,05 Milliarden Euro. Das Land ist sehr reich, aber laut der jüngsten, 2020 im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums erstellten Studie gehören zwei Drittel des Nettovermögens nur zehn Prozent der Bevölkerung, wiederum mehr als die Hälfte davon entfällt auf das oberste eine Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung hat gar kein oder ein sehr geringes Vermögen, ihr Anteil am Reichtum beträgt drei Prozent – und wird kaum steigen.


DGB Mittelfranken fragt: Ist die Armut in Deutschland erwünscht?


Die Zinskrise dürfte die Umverteilung der Vermögen nach oben noch befördert haben. Die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank hatte einen Immobilien-Boom zur Folge, von dem nur profitiert, wer sich Hypothekenkredite leisten kann. Kurszuwächse an den Aktienmärkten machen nur begüterte Menschen noch reicher. Und Adam Smith könnte sich geirrt haben: Vielen Konzernen ist ihr Aktienkurs wichtiger als das Wohl ihrer Arbeiter.

Die Frage der Herkunft

Ist das alles gerecht? Das ist eine große Frage. Die wenigsten Menschen wollen, dass alle gleich viel verdienen, die Idee, Leistung dürfe sich lohnen, ist ja alles andere als abwegig. Aber die meisten finden es ungerecht, wenn ungleiche Einkommen auf ungleiche Voraussetzungen zurückgehen, auf Familienvermögen, die Berufe der Eltern, deren Bildung, auf das Geschlecht oder den Migrationshintergrund.

"Nach wie vor hängen in Deutschland Bildungschancen stark von der sozialen Herkunft ab", bemerkt das Statistische Bundesamt und nennt Zahlen wie diese: Nur acht Prozent der Gymnasiasten sind Kinder von Eltern, die einen Hauptschulabschluss oder gar keinen Schulabschluss besitzen.

Ungleichheit ist aber nicht notwendigerweise die Folge von Ungerechtigkeit, laut Umfragen war Ungleichheit lange Zeit offenbar auch kein drängendes Problem. Ältere Umfragen des Allensbach-Institus sind durchaus verblüffend, von 1964 bis 1979 empfand die Mehrheit der Deutschen die ungleichen wirtschaftlichen Verhältnisse im Land durchgängig als "gerecht", anschließend sank die Zustimmung und erreichte mit der Finanzkrise 2008 einen vorläufigen Tiefpunkt.

Nachhaltigkeit Armut
Reiches Land - mit immer mehr armen Menschen. Die Mehrheit der Deutschen empfindet die Verhältnisse als sozial nicht mehr gerecht. © Peter Steffen, NN

Ist Ungleichheit ungerecht?

Nach einer Erhebung der Diakonie Deutschland waren schon vor vier Jahren 61 Prozent der Deutschen der Meinung, im Land gehe es "sozial nicht gerecht" zu; im Dossier "Armut in Deutschland", erstellt 2018 vom Datensammler Statista, stimmten der Frage, ob die Regierung Maßnahmen ergreifen sollte, um die Einkommensunterschiede zu reduzieren, 53 Prozent "voll und ganz", weitere 31 Prozent "eher" zu.

"Die Wahrnehmung von Ungleichheit und ihre Interpretation als Ungerechtigkeit", hielt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2019 fest, könnten Staat und Gesellschaft in eine Legitimationskrise führen – man denkt an Adenauers Lastenausgleichsgesetz und dessen psychologische Wirkung.

Vermögensabgaben nach diesem Vorbild sind bereits wiederholt gefordert und, vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, im April 2020 sogar im Bundestag diskutiert worden, mit ausdrücklichem Verweis auf das Jahr 1952. Die neoliberale Wirtschaftspolitik lehnt das ab, das (arbeitgebernahe) Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) vertritt die Ansicht, dass politische Maßnahmen wie ein erhöhter Mindestlohn bereits wirkten und dass die tariflichen Stundenlöhne gestiegen seien. Die Schere zwischen Arm und Reich gehe nur "gefühlt" immer weiter auseinander, behauptet das IW.

Maßnahmen zur Umverteilung

Bessere Schulen, bessere Bildungsabschlüsse, eine stärkere Tarifbindung, Hilfen zur Vermögensbildung: Das sind andere Vorschläge. Allerdings hat selbst der jedweder Sozialromantik völlig unverdächtige Internationale Währungsfonds (IWF), ein Flaggschiff des Neoliberalismus, für Aufsehen gesorgt und ein weltweit wachsendes Ungleichgewicht konstatiert:

Das Einkommen der Arbeitnehmer halte nicht Schritt mit einer wachsenden Wirtschaftsleistung, es gelte, das Ungleichgewicht "insbesondere in Industriestaaten" zu beseitigen. "Längerfristig angelegte Maßnahmen zur Umverteilung könnten erforderlich sein", schrieb der IWF im Weltwirtschaftsbericht 2017. Der rasante technologische Fortschritt und die Globalisierung, heißt es darin, hängten zu viele Menschen ab; solche beinahe nach Robin Hood klingende Sätze hatte man vom IWF nie zuvor gehört.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), noch ein großer neoliberaler Tanker, gab sich beinahe radikal: "Die Politik muss dafür sorgen, dass Reichere und multinationale Unternehmen ihren Teil der Steuerlast tragen", forderte sie bereits 2015.

Arbeit verliert an Wert

Und Arbeit verliert ohnehin stetig an Wert, vieles von dem, was noch Menschen tun, werden bald Künstliche Intelligenzen erledigen – und zu noch höheren Gewinnen von Großkonzernen beitragen. Dass der Staat wieder stärker Sozialstaat werden muss, um seine gewaltigen Aufgaben wahrzunehmen, dürfte wahrscheinlich sein – möglicherweise wird es schon bald Menschen geben, denen man nur noch ein bedingungsloses Grundeinkommen bieten kann.

Höhere Steuern auf hohe Einkommen, auf große Vermögen und auf hohe Erbschaften fordern die meisten Sozialverbände, einen globalen Mindeststeuersatz für Konzerne, Sanktionen gegen Steuerflucht – das alles könnte neben der praktischen auch eine psychologische Wirkung haben, denn wie man soziale Gerechtigkeit betrachtet, ist auch eine Frage der Perspektive.

Ein sehr schöner Satz dazu findet sich bei Friedhelm Hengsbach, der Jesuit aus Dortmund gehört zu den großen Sozialethikern Deutschlands. "Sie müssen in einer Gesellschaft Differenzen zulassen, aber über die Differenzen entscheiden nicht die Höheren, sondern die, die unten sind", schreibt er in seinem Buch "Teilen, nicht töten", und: Übertragen auf die Deutsche Bank hieße das, nicht die Vorstände, sondern die Reinigungskräfte entscheiden.