Nürnberg/Jerusalem - Seit Tagen wird im Heiligen Land wieder gekämpft, es gibt Tote und Verletzte unter Israelis und Palästinensern. Aber warum gerade jetzt? Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem, ist vor Ort und hält eine „toxische Mischung“ mehrerer Faktoren für die Ursache der jüngsten Gewalteskalation.

Herr von Freytag-Loringhoven, das Gebäude Ihrer Stiftung in Jerusalem liegt im Viertel Scheich Dscharrah im Ostteil der Stadt. Es heißt, dass die geplante Umsiedlung mehrere palästinensischer Familien von dort mit ein Auslöser für die eskalierende Gewalt der letzten Tage war. Teilen Sie diese Auffassung?

Ich denke schon, wir haben das aus nächster Nähe miterlebt. Die Familien, die von dort weichen sollen, leben nur etwa 50 Meter vom Stiftungsbüro entfernt. Ich bin dort jeden Tag durch die Polizeikontrollen gefahren und habe auf der einen Seite jüdische Siedleraktivisten sowie demonstrierende Palästinenser auf der anderen Seite gesehen – bis sich vor wenigen Tagen die Gewalt Bahn gebrochen hat.

Wie ist derzeit die Stimmung dort auf den Straßen und in den Gassen?

Sehr angespannt. Im Moment habe ich alle unsere Mitarbeiter ins Homeoffice verbannt, weil es in dem Bezirk vor einigen Tagen schon den ersten Toten gab, als ein Auto etwa 200 Meter von unserem Büro entfernt eine Polizeisperre durchbrechen wollte. Dabei wurden mehrere Polizeibeamte verletzt und der Fahrer getötet.

Warum sollen die betroffenen Familien aus ihren Wohnungen weichen, wie lautet die Begründung?

Das ist eine komplexe Situation. Die Menschen, die dort leben, wohnen in Häusern, die in den 50er Jahren vom UN-Flüchtlingshilfswerk gebaut worden waren, als Ostjerusalem unter Kontrolle Jordaniens stand. Zuvor waren jene Menschen aus ihren Häusern im heutigen Westjerusalem geflohen, wo heute fast ausschließlich Israelis leben. Nun ist aber ein Dokument aus osmanischer Zeit aufgetaucht, das nachweist, dass das betreffende Gelände in Scheich Dscharrah vor der jordanischen Herrschaft jüdischen Gemeinden gehört hatte. Und die fordern den Grund zurück.

Wie viele Personen sind letztlich davon betroffen?

Zunächst sechs Familien. Insgesamt geht es um eine Reihe von knapp 30 Häusern auf dem Gelände, das heißt, wir reden hier von fast 80 Personen, die weichen sollen, nachdem sie seit Jahrzehnten dort gelebt haben.

Können die Betroffenen dagegen klagen?

Das versuchen sie seit Jahren. Anhand dieser Entwicklung offenbart sich das Problem, dass die Rolle der Palästinenser im Osten Jerusalems bis heute nicht eindeutig geklärt ist. Seit Israel ganz Jerusalem für sich beansprucht, also seit 1967, haben die Bewohner Ostjerusalems keine Staatsbürgerrechte bekommen, sie haben nur so etwas wie ein dürftiges Bleiberecht. Und das können sie in jenem Moment verlieren, in dem sie auch ihre Häuser verlieren.

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Julius von Freytag-Loringhoven (40), Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem. © Friedrich Naumann Foundation for Freedom, NNZ

Das heißt, diese Menschen wären dann obdachlos?

Richtig. Ohne finanzielle Unterstützung würden sie das, und das ist es, was hier für so viel Unmut und Wut gesorgt hat. Diese Menschen könnten abgeschoben werden und müssten ins Westjordanland umsiedeln. Oder an einen anderen Ort gehen, wo palästinensische Flüchtlinge aufgenommen werden.

Nach internationalem Recht dürfen Menschen aus besetzten Gebieten eigentlich nicht zwangsumgesiedelt werden. Wieso scheint Israel das nicht zu stören?

Aus israelischer Sicht ist Ostjerusalem Staatsgebiet von Israel und nicht etwa besetztes Gebiet wie das Westjordanland. Deswegen wendet der Staat sozusagen ganz normales Eigentumsrecht an, ohne sich um internationale Regeln zu scheren.

Können palästinensische Familien, die früher im Westen der Stadt lebten, im Gegenzug auch Haus und Grund zurückfordern, sofern diese heute von Israelis bewohnt werden?

Nein. Und genau aus diesem Grund hat das Thema eine solche Brisanz entwickelt. Die geplante Vertreibung aus dem Bezirk Scheich Dscharrah ist Bestandteil eines toxischen Gemischs, welches die Spirale der Gewalt angeheizt hat. Dazu gehört auch die Fehlentscheidung der israelischen Polizei, im Ramadan sowohl am Damaskus-Tor, einem beliebten Treffpunkt der Palästinenser, als auch auf dem Tempelberg die Bewegungsfreiheit gläubiger Muslime einzuschränken. Und die Absage der Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten durch Präsident Mahmud Abbas.

Wie das?

Mehrere Umfragen hatten gezeigt, dass sein Rückhalt innerhalb der Fatah geschmolzen ist und er massive Einbußen hätte hinnehmen müssen. Sein Ausweg war, die Wahl abzusagen mit dem Argument, Israel hätte es unmöglich gemacht, diese in Ostjerusalem durchführen zu können, was durch den Oslo-Prozess eigentlich garantiert sein sollte. Das mag eine Rolle gespielt haben, aber der Hauptgrund für die Absage der Wahl war sicherlich Abbas’ Angst vor dem Verlust der Macht.

Und wie rief das die Hamas auf den Plan?

Die Hamas, eine islamistische Gruppierung ohne demokratische Tradition, hat ihre Chance gesehen, so etwas wie das Sprachrohr der Palästinenser zu werden und sich als Verteidigerin von deren Recht zu inszenieren, die heiligen Stätten aufzusuchen. Daher stellte sie ein Ultimatum an Israel, die Sicherheitskräfte vom Tempelberg abzuziehen. Nachdem dies nicht geschah, begann der Raketenbeschuss.

Manche sehen im Umfeld der Eskalation der Gewalt auch eine innenpolitische Komponente, laut der Israels Premierminister Benjamin Netanjahu die Kampfhandlungen durchaus zupass kommen. Was ist davon zu halten?

Netanjahu profitiert von der Eskalation der Gewalt, ohne Frage. Solange geschossen wird, ist es seinen Kontrahenten Jair Lapid und Naftali Bennett unmöglich, eine Regierungskoalition gegen ihn zu schmieden. Lapid hat dem Premier sogar unterstellt, dass dieser zur Eskalation in Jerusalem beigetragen habe und es kein Zufall sein könne, dass es immer dann dazu komme, wenn es Netanjahu nütze. Es ist schwierig, das zu beurteilen.


Hassbotschaften auch an Nürnbergs Juden


Und wie wird es weitergehen?

Man muss anerkennen, dass Netanjahu relativ maßvoll reagiert und sich bislang gegen eine Bodenoffensive ausgesprochen hat. Die Armee ging sehr gezielt gegen Tunnel der Hamas im Gazastreifen vor sowie gegen Bunker oder Orte, an denen Waffen produziert wurden. Das verlief relativ erfolgreich.

Was muss passieren, damit die Waffen wieder schweigen?

Ich vermute, dass eine Waffenruhe kurz bevorsteht. Israel hat seine taktischen Ziele weitestgehend erreicht. Die Infrastruktur der Hamas wurde so stark beschädigt, dass eine Fortsetzung des Terrors immer schwieriger und der Preis für Raketenangriffe immer höher wird. Israels Armee war diesmal in einer Woche erfolgreicher als im siebenwöchigen Gaza-Krieg 2014, als es sogar zu einer Offensive am Boden kam. Doch selbst wenn die Waffen schweigen, bleiben viele Grundfragen des Nahost-Konflikts ungeklärt. Zum Beispiel die rechtliche Stellung der Palästinenser in Ostjerusalem. Es muss auch etwas getan werden gegen die Diskriminierung der arabischen Bevölkerung im Rest Israels, die es trotz gelungener Integrationsmaßnahmen immer noch gibt. Zudem muss der demokratische Prozess in den Autonomiegebieten unterstützt werden. Bevor man überhaupt wieder an Friedensverhandlungen denken kann, ist also viel Überzeugungsarbeit zu leisten.