
Herr Bogdan, ist es normal, dass man bei Impfstoffen nachjustieren muss, auch wenn sie bereits zugelassen sind und verabreicht werden?
Christian Bogdan: Absolut. Die Phase III einer klinischen Studie hat einen großen, aber nichtsdestotrotz beschränkten Umfang. Bei allen drei COVID-19-Impfstoffen, die in Deutschland zugelassen sind, nahmen an den Phase III Studien bis zu 20.000 Probanden teil. Wenn man dann ein Ereignis hat, das seltener als 1 in 5000 auftritt, kann man das in einer Phase III Studie nicht mit statistischer Sicherheit beobachten.
Sehr seltene Nebenwirkungen einer Impfung kann man grundsätzlich erst dann entdecken, wenn zahlreiche Menschen geimpft worden sind. Die Forderung von mehr Studien vor dem Impfstart hat keinen Sinn, da in diesen ja ebenso viele Menschen geimpft werden müssten. Das in Deutschland gesetzlich vorgeschriebene Meldesystem zur Erfassung von Impfnebenwirkungen funktioniert bei der COVID-19-Impfung sehr gut.
In den vergangenen Tagen war oft die Rede von einem Vertrauensverlust in den Astrazeneca-Impfstoff. Ist es nicht aber eigentlich ein gutes Zeichen, wenn das Warnsystem frühzeitig anschlägt?
Bogdan: Dieser Meinung bin ich auch. Wären diese Fälle quasi zufällig und außerhalb des Warnsystems und erst mit großer Verzögerung entdeckt worden, wäre der Vorwurf gerechtfertigt. Jetzt geschieht genau das Umgekehrte und es wird trotzdem als negativ empfunden – das ist stellenweise schon grotesk. Ich bin froh, dass wir ein etabliertes Meldesystem und ein Paul-Ehrlich-Institut (PEI) haben und seltene Impfnebenwirkungen detektieren können. Nur so können wir die Risiken einordnen, in Relation zum Nutzen setzen und eine Impfempfehlung evidenzbasiert anpassen.
Millionen Dosen: Hausärzte sind bereit zum Impfen
Das heißt, bei anderen Impfstoffen läuft es in der Anfangsphase genauso?
Bogdan: Natürlich, das Vorgehen ist nicht spezifisch für die COVID-19-Impfung. Bei einem Impfstoff, der seit 40 Jahren verimpft wird, kann man vielleicht unterstellen, dass die Bereitschaft zur Erfassung und Meldung unerwünschter Impfnebenwirkungen abnimmt. Im Moment gibt es aber eine große Aufmerksamkeit für die COVID-19-Impfstoffe, nicht zuletzt aufgrund der hohen medialen Begleitung. Derzeit gehen beim PEI sehr viele Meldungen ein, die meisten zu normalen Impfreaktionen, die gar keiner Meldepflicht unterliegen. Aber es wurden und werden eben auch die sehr selten auftretenden Hirnvenenthrombosen gemeldet. Das heißt, das Meldesystem funktioniert, in der momentanen Situation vermutlich sogar besser als sonst.
Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus – gibt es da ebenfalls vergleichbare Fälle von Hirnvenenthrombosen?
Bogdan: Ja, auch aus Ländern wie Dänemark, Frankreich, Norwegen, Österreich und Großbritannien gibt es Meldungen. Man muss dabei drei Faktoren beachten: Wie weit ist ein Meldesystem innerhalb der Ärzteschaft und der Bevölkerung bekannt und etabliert? Wie groß ist die Arztdichte? In England beispielsweise ist die Arztdichte wesentlich dünner als hier. Und werden Verdachtsfälle oder Todesfälle in einem Zeitfenster von zwei bis drei Wochen nach Impfung einer entsprechenden Diagnostik bzw. Obduktion zugeführt?
Hier können Sie Ihre Meinung zur Corona-Krise kundtun oder sich mit anderen Usern zum Thema austauschen. Alle Artikel zu Corona haben wir zudem für Sie auf einer Themenseite gesammelt.
Hier in Deutschland haben wir mit unserem sehr gut aufgestellten Gesundheitssystem sicherlich hervorragende Chancen, Impfreaktionen zu detektieren. Warum Hirnvenenthrombosen in England nach Astrazeneca-Impfung bisher 10-fach seltener (ungefähr ein Fall pro einer Million Impfungen) als in Deutschland (ca. ein Fall pro 100.000 Impfungen) gemeldet wurden, ist derzeit nicht bekannt. Es ist aber nicht anzunehmen, dass die Bewohner auf der Insel ein niedrigeres Risiko haben als die Bewohner in Zentraleuropa.
Die offene Frage ist bislang: Was trägt der Astrazeneca-Impfstoff zu den Sinusvenenthrombosen bei?
Bogdan: Eine Erklärung, die aber noch nicht im Detail belegt und publiziert ist, geht davon aus, dass es im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung zu einer Verstärkung einer möglicherweise vorbestehenden Autoantikörperbildung gegen einen Botenstoff (dem sogenannten Plättchenfaktor 4) kommt. Dies führt zu einer Aktivierung der Thrombozyten (Blutplättchen), was einerseits deren Zerstörung, andererseits aber auch deren Verklumpung bedingen kann. Klinisch sieht man dann Thrombosen in Verbindung mit Thrombozytopenien, dem Mangel an Blutplättchen im Blut. Ein solcher Autoantikörper-basierter Mechanismus würde auch erklären, warum es nicht jeden trifft. Wäre der Impfstoff selbst ursächlich, müssten diese Thrombosen viel häufiger nach Impfung auftreten. Warum vor allem Hirnvenenthrombosen auftreten, ist bisher nicht bekannt.
Stiko rät Astrazeneca-Geimpften zu anderem Impfstoff für zweite Dosis
Wird die Impfkampagne durch diese Neuregelung beeinträchtigt werden?
Bogdan: Da gibt es jetzt natürlich organisatorische Dinge, die geändert werden müssen, wie beispielsweise die Impftermine. Grundsätzlich glaube ich aber nicht, dass das ein großes Problem ist. Es gibt genügend Menschen (nämlich alle ab 60 Jahre), die nach der derzeit gültigen STIKO-Impfempfehlung vom 1. April mit dem Astrazeneca-Impfstoff geimpft werden können. Nach individueller Risiko-Nutzen-Abwägung durch den behandelnden Arzt können im Rahmen einer Öffnungsklausel selbst jüngere Menschen den Astrazeneca-Impfstoff bekommen. Was man klarmachen muss: Alle drei Impfstoffe, die wir zur Verfügung haben, sind sehr wirksam und sicher. Hirnvenenthrombosen sind ein sehr seltenes Ereignis.
