NÜRNBERG - Bislang hat sich in Deutschland noch kein aktiver Fußballprofi als schwul geoutet. Doch wie ist die Lage bei den Amateuren? Ein Spieler, ein Trainer und ein Schiedsrichter aus der Region berichten über ihre Erfahrungen auf dem Platz, in der Kabine und unter der Dusche.

Die ersten Gedanken kamen in der Grundschule. Muss man als Mann eigentlich immer eine Frau lieben? Können vielleicht auch zwei Männer ein Kind haben? Schon mit acht Jahren hat Julian Pecher gespürt, dass das mit ihm und den Mädchen wohl nichts werden wird. "Trotzdem habe ich bis zum Alter von 21 gebraucht, um mir über meine Homosexualität bewusst zu werden", sagt er rückblickend.

Als Pecher über seine Geschichte als schwuler Spieler im unterklassigen Amateurfußball erzählt, sitzt er auf einer Bank im Fürther Wiesengrund und nippt an seinem Cappuccino to go. Fast zwei Stunden redet der 29-Jährige – unaufgeregt und erfrischend offen. Seine ganze Jugend über stand er auf den Sportplätzen der Region, damals natürlich noch ungeoutet.


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Schließlich konnte er selbst noch nicht richtig einordnen, was es war, das er gegenüber manchen Jungs fühlte. Geändert hat sich das mit Anfang 20, als er das Trikot des FV Kleeblatt 99 Fürth trägt. "Da hat mein Mitbewohner mit mir in einer Mannschaft gespielt, der wusste natürlich, dass ich schwul bin. Und einige andere im Team sicherlich auch", erzählt Pecher. Ein Thema sei das aber nie gewesen. So soll es auch sein, findet er. "Wenn alle darüber reden, ist es ja schon ein Zeichen, dass es nicht selbstverständlich ist."

"Man darf nicht überempfindlich sein"

Nach seiner Zeit als Torhüter bei Kleeblatt 99 spielt er einige Jahre für Blau-Schwarz 88, die Hobbymannschaft der DJK Eintracht Süd Nürnberg auf der Sechser-Position. Dort wissen alle Mannschaftskollegen, dass Julian ihnen in der Disco keine Konkurrenz machen wird. Dabei wäre es für den blonden, sportlichen Kerl mit seinen blauen Augen und dem frechen Grinsen wohl nicht schwer, die Damenwelt von sich zu überzeugen. Will er aber nicht. Stattdessen nimmt er seinen damaligen Freund mit zum Training. "Wir waren voll integriert, ich konnte ihn auch küssen, alles kein Problem", erzählt Pecher.

Pecher
Sorgt auch mal mit der Gitarre für gute Stimmung im Sportpark Ronhof: Stadionsprecher Julian Pecher. © Sportfoto Zink / Wolfgang Zink

Von dummen Sprüchen lässt er sich sowieso nicht so leicht beeindrucken. In der Mannschaft gibt es den Running Gag, dass man lieber nichts runter fallen lassen sollte, wenn Julian mit in der Dusche steht. Mache hätten das als unverschämt, kränkend und diskriminierend empfunden. Pecher nicht. "Das war immer freundschaftlich, nie bösartig. Man darf auch nicht überempfindlich sein." Angesprochen hätte er das Thema nur, wenn er gemerkt hätte, das manche mit dem Duschen lieber warten, bis er fertig ist.

Blöde Fragen zu seiner Sexualität, dummes Gerede hinter seinem Rücken oder gar offene Ablehnung hat er nie erlebt. Auch nicht beim FSV Stadeln, wo er kurz vor der dem ersten Lockdown ein Probetraining absolviert. "Die haben mir das Gefühl gegeben, dass ich herzlich willkommen bin", sagt er. Pechers sexuelle Orientierung ist kein Geheimnis, auch beim FSV dürften ihn einige kennen.

Kleeblatt ist "außerordentlich weltoffen"

Als Stadionsprecher der Spielvereinigung Greuther Fürth steht er bei jedem Heimspieltag vor tausenden Fans auf dem Rasen. In den sozialen Medien ist er höchst aktiv, hält auch mal die Regenbogenfahne in die Kamera, setzt sich für Vielfalt und Toleranz ein. Auch im Fürther Stadtrat, wo er für die SPD sitzt. Das Kleeblatt, sagt Pecher, "ist meine Heimat, hier fühle ich mich voll und ganz wohl". Verein, Fans und Umfeld beschreibt er als "außerordentlich weltoffen".


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Doch das ist längst nicht überall der Fall. Schon gar nicht im Profifußball, wo sich noch immer kein aktiver Spieler zu seiner Homosexualität bekannt hat. Die Angst ist groß. Vor der Ablehnung von den Rängen, vor der medialen Aufmerksamkeit, vor einem Karriereknick. Und davor, nicht mehr als, sagen wir, guter Innenverteidiger gesehen zu werden, sondern nur noch als schwuler Fußballprofi. Daran haben vorerst auch die mehr als 800 Fußballerinnen und Fußballer nichts geändert, die im Magazin "11 Freunde" homosexuellen Kollegen ihre Unterstützung bei einem Coming-Out zugesichert haben. Darunter prominente Profis wie Ex-Nationalspieler Max Kruse oder Niklas Stark, der von 2013 bis 2015 die Fans im Max-Morlock-Stadion begeisterte.

Wie groß das Tabu Homosexualität im Fußball im Jahr 2021 noch ist, zeigt auch die Recherche für diesen Text. Julian Pecher ist der einzige Amateurkicker, der sich öffentlich zu diesem Thema äußern will. Ein anderer Spieler lehnt sofort ab. Ein dritter sagt erst zu, meldet sich danach, trotz mehrmaliger Nachfragen, aber nicht mehr. Das überkommene Ideal von "echter", rauer, selbstverständlich heterosexueller Männlichkeit, nirgendwo hält es sich so hartnäckig wie im Fußball. Bemerkenswert für eine Sportart, deren Protagonisten bisweilen beim kleinsten Körperkontakt mit kunstvoller Theatralik zu Boden sinken.

Die Macht der alten Männer

Fabian Helmreich, der eigentlich anders heißt, kennt das Problem gut. "Das Mantra ,im Fußball gibt es keine Homos‘ hat sich als Tabu verselbstständigt", sagt er. Helmreich arbeitet in der Region als junger Trainer im leistungsorientierten Jugendbereich. Er ist erfolgreich, hervorragend ausgebildet, schafft es, Mannschaften an ihr Leistungslimit zu führen. Und er ist schwul. Dass Philipp Lahm homosexuellen Fußballprofis jüngst von einem Outing abgeraten hat, haben auch die Spieler seiner Jugendmannschaft mitbekommen. Und darüber diskutiert.


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"Man merkt da aber zum Glück, dass sie anders aufgewachsen sind als die ältere Generation. Die sind aufgeklärt genug, um das nicht mehr schlimm zu finden", sagt Helmreich. Für ihn kommt es trotzdem nicht in Frage, sich zu outen. Manche Eltern, fürchtet er, würden das nicht gut aufnehmen. Und gerade in ländlichen Regionen sei es immer noch unvorstellbar, dass es auf und neben dem Spielfeld schwule Männer geben könnte. Während des Spiels herrscht ein rauer Ton. "Viele Leute denken auch nicht über ihren Sprachgebrauch nach, brüllen ,Was bist du denn für eine Schwuchtel?‘ rein, wenn ein Spieler liegen bleibt."

Seinen Ex-Freund hat Helmreich bei ein paar Spieltagen dabeigehabt. Er hat ihn als Kumpel vorgestellt und penibel darauf geachtet, dass nicht eine Geste oder ein Wimpernschlag verrät, dass da mehr zwischen ihnen ist als Freundschaft. "Das Problem ist, man kann die Reaktion im Verein nicht abschätzen, wenn man sich outet", sagt der junge Trainer, dessen Talent und Ambitionen ihn in ein paar Jahren womöglich in den Profifußball führen könnten.

Grundsätzlich sei die Gesellschaft zwar offener geworden, "aber man darf die festgefahrenen Strukturen, die Macht der alten Männer in den Vereinen nicht unterschätzen." Im Fußball aktiv zu sein bedeutet immer auch, auf der großen Bühne zu stehen, schon im Amateurbereich. Für keinen Sport interessieren sich mehr Menschen, nirgendwo fließt so viel Geld, jeder glaubt von sich, ein Experte zu sein.

Die Schiedsrichterkollegen wissen Bescheid

Thorsten Lindner weiß das. Auch er will seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Als Kind hat er selbst Fußball gespielt, das Talent war aber überschaubar, wie er sagt. Sein Nachbar, ein ehemaliger Bayernliga-Schiedsrichter, hat ihn dann zum Pfeifen gebracht. Seit über zehn Jahren leitet er nun Spiele in Ober- und Mittelfranken bis zur Bezirksliga. Unter Schiedsrichtern sei das mit dem Schwulsein kein Problem, erzählt Lindner. Beim Obmann seiner Schiedsrichtergruppe ist er schon lange geoutet.


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"Nach einem Spiel habe ich meinen Ex-Freund mal zum Essen mitgenommen. Das war komplett unproblematisch. So als hätte ich eine Frau dabei gehabt." Auch die Kollegen, mit denen er sich gut versteht, wissen Bescheid. Drei davon sind selbst schwul. Gegenüber Spielern versteckt er seine Sexualität jedoch. Wollte sein früherer Partner mal bei einem Spiel dabei sein, reisten die beiden in getrennten Autos an. Nur keine Nähe zeigen, Gerüchte gar nicht erst aufkommen lassen.

"Schwule passen da nicht rein"

"Die Gefahr ist viel zu groß, dass auf dem Platz mal Sprüche kommen oder es die Zuschauer mitbekommen", sagt Lindner. Gerade in hitzigen Spielen würde die Situation dann eskalieren, fürchtet er. Das Publikum könnte aber nicht nur für ihn als Schiedsrichter, sondern auch für schwule Spieler zum Problem werden. "Fußball bedeutet für viele halt immer noch Geld, Autos, Erfolg und Frauen. Schwule passen da nicht rein."


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Dass dieses Denken nicht selten vorherrscht, weiß auch Julian Pecher. Trotzdem wird er auch weiterhin als offen schwuler Mann Vereinsfußball spielen. Sobald es die Corona-Pandemie zulässt, will er zusammen mit seinem Patenkind beim SV Puschendorf angreifen. Amateurfußballern würde er grundsätzlich raten, gegenüber den Teamkollegen offen zur eigenen Sexualität zu stehen. "Wenn eine Mannschaft das nicht akzeptiert, dann ist es nicht deine Mannschaft."