
Bis alle geschützt sind: Immer wieder schlagen Wissenschaftler Herdenimmunität als Strategie gegen das Corona-Virus vor. Zuletzt sorgte die "Great Barrington Declaration" für Schlagzeilen. Darin warnen drei Professoren der renommierten Universitäten Harvard, Oxford und Stanford vor den Folgen der aktuellen Maßnahmen. Sie fordern stattdessen einen "gezielten Schutz" der Risikogruppen während alle anderen wieder normal leben können.
Knapp 600.000 "besorgte Bürger" haben die Erklärung bereits unterzeichnet, heißt es auf der Webseite, darunter zehntausende Ärzte, Wissenschaftler und medizinisches Personal. Das American Institute for Economic Research mit Sitz in Great Barrington in Massachusetts hat das Dokument auf seiner Webseite veröffentlicht.
Bundeskanzlerin verteidigt Teil-Lockdown
"Die derzeitige Lockdown-Politik hat kurz- und langfristig verheerende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit", schreiben die Initiatoren. Dazu gehören "niedrigere Impfraten bei Kindern, schlechtere Verläufe bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weniger Krebsvorsorgeuntersuchungen und eine Verschlechterung der psychischen Verfassung".
Als Lösung schlagen sie deshalb vor: "Der einfühlsamste Ansatz besteht darin, denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen können."
Eine Warnung, wie in "Game of Thrones"
Doch so einfach ist das nicht. Noch immer sei nicht ausreichend bekannt, wie immun eine durchgestandene Sars-Cov-2-Infektion überhaupt macht, sagen andere Wissenschaftler. Als Reaktion haben sie das "John Snow Memorandum" verfasst und in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlicht.
Benannt ist die Stellungnahme nach einem Londoner Chirurgen, der als Gründer der modernen Epidemiologie gilt. Serienfans erinnert der Name aber auch an Jon Snow, einen Hauptcharakter aus dem Fantasy-Spektakel "Game of Thrones", der vor dem gefährlichen Winter warnt, der kurz bevorsteht.
Corona in Nürnberg: Das sind die aktuellen Fallzahlen
"Genauso wie andere saisonale Coronaviren ist Sars-Cov-2 in der Lage, Menschen nach einer überstandenen Erstinfektion erneut zu infizieren", schreiben die Autoren. Wie oft das passiert, muss aber erst noch untersucht werden. Zum Vorschlag der Herdenimmunität vertreten sie eine klare Meinung: "Dies ist ein gefährlicher Trugschluss, der nicht durch wissenschaftliche Beweise belegt ist."
Erstunterzeichner des Memorandums sind 80 Wissenschaftler aus aller Welt, darunter aus Deutschland unter anderem die Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité und Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Auch die Gesellschaft für Virologie äußert sich in einer Stellungnahme zu Barrington: "Wir lehnen diese Strategie entschieden ab", schreibt der Vorstand. "Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen."
Zu viele Risikogruppen - nicht nur Senioren
Selbst bei strenger Isolierung der Senioren gebe es weitere Risikogruppen, die viel zu zahlreich, verschieden und teilweise auch unerkannt sind, um abgeschirmt werden zu können. Zu den Faktoren, die einen schweren Verlauf begünstigen, zählen bislang unter anderem Übergewicht, Diabetes, Krebs, Niereninsuffizienz, chronische Lungen- und Lebererkrankungen, Schlaganfall, Transplantationen und Schwangerschaft.
Verschiedene Arbeitsgruppen untersuchen derzeit, wie immun Betroffene gegen eine erneute Infektion sind. "Patienten, die eine schwere Lungenentzündung durchmachen, bilden eine stärkere Immunantwort aus als jemand, der einen Verlauf ohne Symptome hat", sagt Leif-Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe Infektionsimmunologie an der Charité. "Das Virus wird vermutlich saisonal werden, so dass wir es immer wieder damit zu tun haben – aber eine Zeit lang wird nach einer Infektion durchaus ein Schutz vor einer neuen, schweren Infektion bestehen."
Sein Kollege Jacob Nattermann leitet die Arbeitsgruppe für angeborene zelluläre Immunologie am Uniklinikum Bonn und warnt vor dem Versuch der Herdenimmunität. "Für mich als Intensivmediziner ist das eine völlig absurde Vorstellung, den Tod von 200.000 oder mehr Menschen zu riskieren", sagt er. "Wir sehen jetzt verstärkt, dass wir auch jüngere Patienten auf den Intensivstationen haben." Seine Empfehlung, an Personen, die bereits infiziert waren, ist deshalb: "Verhalten Sie sich weiterhin vorsichtig, seien Sie kein Überträger für andere, die diesen Schutz nicht haben."