
Gelegentlich sieht man noch Touristen in der Zugspitzstraße stehen. München-Giesing, sie suchen die Hausnummer sechs. Es gibt kein Hinweisschild, nur immer wieder ein paar Aufkleber, weißblaue, es sind die Farben von 1860 München. Der TSV 1860 ist der Verein der Stadt. In der Zugspitzstraße begann eine Geschichte, die weit über München hinausführte – den FC Bayern, der zum Weltverein wurde. Und den Mann, der hier, als Sohn eines späteren Posthauptsekretärs und einer gelernten Verkäuferin, gemeinsam mit seinem vier Jahre älteren Bruder Walter in einer kleinen Zweizimmerwohnung aufwuchs – seit einem halben Jahrhundert dürfte er der weltweit bekannteste lebende Deutsche sein.
Mit fünf Jahren durfte Franz Beckenbauer, zuvor Ballbub, in der "Bowazu"-Mannschaft mitspielen, bei den Straßenfußballern, die in der Bonifatius-, der Watzmann- und der Zugspitzstraße wohnten. Er war der beste Spieler, das sollte er bleiben, ein Fußballer-Leben lang, das ihn mit 13 Jahren zum TSV 1860 hätte führen sollen. Aber damals verpasste ihm der 1860-Verteidiger Gerhard König eine schallende Ohrfeige, der spätere Kaiser, noch für den SC 1906 aktiv, schloss sich dem FC Bayern an. Auch dort hatten sie manchmal ihre liebe Not mit diesem torgefährlichen Stürmer; aus der A-Jugend schlossen sie ihn einmal aus, weil er seine weniger begabten Mitspieler despektierlich "Schwammerl" nannte.
Freigeist und Fußball-Genie
Als er mit 18 Jahren Vater wurde, war das ein Skandal. Thomas, der erste Sohn, war das Ergebnis einer Liaison mit einer Kollegin bei der Allianz, bei der Beckenbauer nach einem sehr guten Volksschulabschluss den Beruf des Versicherungskaufmanns lernte. Nur der Trainer Dettmar Cramer bewahrte ihn damals vor dem Rauswurf aus der Jugend-Nationalmannschaft, Cramer wurde sein erster Mentor, später sein Trauzeuge bei der ersten Hochzeit – und die erste jener Vaterfiguren, die ihn durch sein ganzes Leben begleiten sollten.
Das sollte Beckenbauers Rolle werden: die des Freigeistes, des Fußball-Genies, das im Grunde immer nur spielen wollte. Mit dem Ball, auch, so wirkte es, mit dem Leben, sein darüber entwickelter Charme bescherte ihm die Nachsicht selbst strenger Kritiker. Fiel er aus der Rolle, war er bloß der "Firlefranz", wie ihn der Spiegel einmal nannte – oder bat selbst darum, ihn doch bitte nicht immer ernst zu nehmen. An dem Denkmal, das ihm die Deutschen setzten, hat er kaum je mitgebaut. Sein Leben war manchmal eine einzige Provokation: diese Leichtigkeit, diese Lässigkeit, eine Steueraffäre, die zur Flucht nach New York führte, die vielen Frauen, eheliche und uneheliche Kinder – in einem Land, das harte Arbeit, Treue, Rechtschaffenheit und Bescheidenheit schätzt. Trotzdem liebten ihn die (meisten) Deutschen, seine Art zu spielen, seine Ausflüge ins Glamouröse – und seine Liebe zu Giesing und zur Mama Antonie.
Im Mittelpunkt einer Affäre
Wo er auftrat, war er freundlich, man hat ihn in all den Jahrzehnten tatsächlich nie arrogant oder herablassend erlebt, allenfalls cholerisch, beim Fußball, wenn er sich wieder einmal über irgendwelche Schwammerl ärgerte. Er konnte Kluges sagen oder Banales, die Deutschen ließen ihn machen – ja, mei, der Franz, das ewige Glückskind. Den Ernst des Lebens regelten seine Vaterfiguren für ihn, Dettmar Cramer, der Starnberger Wurstgroßhändler und FC-Bayern-Fan Rudolf Houdek, der Wirtschaftslobbyist Fedor Radmann und insbesondere Robert Schwan, sein Manager. Er habe doch erst erwachsen werden müssen, als Schwan 2002 starb, hat Beckenbauer einmal gesagt.
Das war im Herbst 2015. Er hatte das Schrecklichste erlebt, was ein Mensch erleben kann, er musste seinen Sohn Stephan begraben. Dazu gibt es keine Verhältnismäßigkeiten, aber ein auf einmal um Jahre gealterter Beckenbauer stand auch im Mittelpunkt einer Affäre um dubiose Zahlungen rund um die WM-Vergabe nach Deutschland 2006, dem größten Coup eines Lebens, in dem er als Libero und als Trainer Weltmeister geworden war.
Auf einmal: verschwunden
"Warum glaubt der Mensch immer nur das Schlechte?" So etwa lauteten die – wenigen – Sätze, die er dazu äußerte, er klang, als habe er sich mit der WM-Bewerbung in eine Parallelwelt hinter dem schönen Spiel verirrt, in der er, "der mindere Kaufmann", doch bloß der Libero war, der freie Mann, arglos und treuherzig. Es war nie unmöglich, ihm das sogar zu glauben, aufgeklärt wird die Angelegenheit vermutlich nicht mehr.
Aber mit ihr ist Franz Beckenbauer als öffentliche Person verschwunden, fast von heute auf morgen, fast ganz und gar. Die letzten Jahre hätten ihn "schon sehr mitgenommen", sagte er jetzt, ohne jede Larmoyanz, seinem einstigen Hausblatt Bild, er habe doch "zuvor in meinem Leben Probleme nie kennengelernt", und: "Der Tod von Stefan war der größte Verlust in meinem Leben. Ich weiß nicht, ob man den Tod seines Kindes jemals verarbeiten kann. Wahrscheinlich nicht." Heute wird Franz Beckenbauer 75 Jahre alt.
