
In manchen Bundesländern ist es erlaubt, dass Enkel ihre Großeltern treffen. In Bayern nicht. In manchen Bundesländern haben Baumärkte geöffnet. In Bayern nicht. Viele Bürger ärgert das. Sie verstehen nicht, warum es keine deutschlandweit einheitlichen Regeln gibt. Auch wenn es darum geht, die Maßnahmen nun wieder zu lockern, wünschen sich viele eine gemeinschaftliche Lösung.
Doch das sei "im höchsten Maße unsinnig", sagt Eckhard Nagel. "Wenn es regional zu einer Differenz von Tagen oder Wochen führt, ist das kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck der Stärke des Föderalismus." Das zeige sich vor allem im Bereich der regionalen Gesundheitsvorsorge und im Katastrophenfall.
Nagel leitet an der Universität Bayreuth den Lehrstuhl für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften. Gleichzeitig ist er der Präsident des chinesisch-deutschen Freundschaftskrankenhauses in Wuhan. Der Professor beschäftigt sich zurzeit intensiv mit den Folgen der Corona-Pandemie. Nun hat der Experte einen Zehn-Punkte-Plan erarbeitet, wie es weitergehen könnte.
In der ganzen Debatte muss beachtet werden, "dass die Verteilung und Ausbreitung der Erkrankung regional sehr unterschiedlich verläuft", sagt Nagel. Während etwa in Mecklenburg-Vorpommern 38,4 Personen pro 100.000 Einwohner nachweislich infiziert sind, sind es dagegen in Bayern 258,3 (Stand 14. April 2020). Auch bei der sogenannten Verdoppelungszeit, die angibt, in welcher Zeit sich die Zahl der Neuinfektionen verdoppelt, gibt es deutliche, regionale Unterschiede.
"Wenn also von einem bundeseinheitlichen Vorgehen bei der Lockerung des Corona Lock-ups gesprochen wird, dann sollte dies die Systematik einzelner Schritte betreffen, nicht aber den zeitlichen Ablauf in ganz Deutschland", sagt Nagel. Das heißt, die Politiker sollten sich einig werden, was nach und nach passieren soll.
Jedes Bundesland oder sogar jeder Regierungsbezirk entscheidet dann aber für sich, zu welchem Zeitpunkt das angemessen erscheint. "Voraussetzung für eine solche zeitlich und regional differenzierte Vorgehensweise ist aber unverändert die Bereitschaft jedes Einzelnen, sich konform zu den jeweiligen Vorschriften zu verhalten", sagt Nagel. "Das ist der zentrale Erfolgsfaktor im Umgang mit einer Virus-Pandemie, die über eine längere Zeit unverändert eine Gefährdung für die Menschen weltweit darstellen wird."
Nagels Zehn-Punkte-Programm, das er "auf Basis von Einschätzungen unterschiedlicher internationaler Expertengruppen" zusammengestellt hat.
1. Allgemeine Kontaktsperren etablieren und so lange aufrecht erhalten, bis eine dem jeweiligen medizinischen Versorgungssystem adäquate Verdoppelungszeit erreicht worden ist.
2. Datenlage verbessern: So viel wie möglich testen – auch Menschen ohne Symptome. Dabei spielen der direkte Virusnachweis und die Diagnostik von Antikörpern eine gleich wichtige Rolle.
3. Die smarte und freiwillige Nutzung sogenannter Corona-Apps. Hier ist die unkomplizierte Verbreitung und Etablierung einer durch das Robert-Koch Institut nutzbaren App angezeigt und der Ausschluss kommerzieller Anreize.
4. Mit dem Coronavirus infizierte und daran erkrankte Menschen sowie deren direkte persönliche Umgebung konsequent isolieren, bis über wiederholte Tests eine Ansteckungswahrscheinlichkeit so gut wie ausgeschlossen werden kann.
5. Das Tragen eines Mundschutzes sollte im öffentlichen Raum, zum Beispiel wie vorgeschlagen in öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch beim Einkaufen verpflichtend sein. Zudem ist Menschen aus den bekannten Risikogruppen dringend zu empfehlen, möglichst permanent bei Kontaktsituationen einen funktionsfähigen Mundschutz zu tragen.
6. Ausreichend adäquate Schutzbekleidung für alle kritischen Bereiche der Versorgung wie in Krankenhäusern, Senioren- und Altenheimen. Die in diesen Bereichen in den letzten Wochen umgesetzten Einschränkungen für Patienten und ältere Menschen führen zu einer konkurrierenden Krankheitslast, die nicht über das Ziel der Verhinderung weiterer Infektionsfälle begründet werden kann, wie die Einschränkung einer menschenwürdigen Sterbebegleitung, Verschärfung von Demenzerkrankungen, Angstzustände und Depressionen.
7. Schritte zur Lockerung im Bereich der Krankenversorgung mit dem Ziel der Wiederherstellung einer normalen Krankenhausfunktion. Corona-Patienten nicht in alle Krankenhäuser verteilen, sondern regional festlegen, welche Krankenhäuser zuständig sind. Einführung von Vier-Stunden-Schichten für das medizinische Personal, das Covid-19-Patienten betreut. Einführung spezieller Reha-Maßnahmen für Corona-Patienten. Weiteres Aufrüsten zusätzlicher Beatmungsplätze. Lockerung von Besuchsverboten. Hochfahren der Corona-Tests für Personal und Patienten sowohl bei der Einweisung wie bei der Entlassung.
8. Schritte zur Lockerung im Bereich der Alten und Pflegeheime mit dem Ziel eines maximalen Schutzes für Bewohner, Personal und Besucher.
9. Schritte zur Lockerung im Bereich der Kitas und Schulen, die mit als erstes wieder geöffnet werden können. Je nach Größe der Schule ist an einen Drei-Schicht-Betrieb (Früh, Mittag, Nachmittag) zu denken, um die Menge der jeweils anwesenden Kinder zu regulieren. Es sollten alle sinnvollen Möglichkeiten des Unterrichts ohne Anwesenheit angemessen geprüft werden.
10. Schritte zur Lockerung im Bereich von Gewerbe und Industrie zeitgleich mit Kitas und Schulen. Hier steht das Einhalten der Abstandsregelung, der Hygieneregeln und das Tragen eines Mundschutzes im Mittelpunkt. Dementsprechend ist auf die Größe der wiederzueröffnenden Einrichtungen zu achten, an die adäquate Personalbesetzung und an die anzupassenden Arbeitszeiten beim Umgang mit einem hohen Publikumsverkehr. In der Industrie ist auf die entsprechende Ausrichtung der Arbeitsplätze zu achten.
Die Anzahl der Corona-Infizierten in der Region finden Sie hier täglich aktualisiert. Die weltweiten Fallzahlen können Sie an dieser Stelle abrufen. Sie haben selbst den Verdacht, an dem Virus erkrankt zu sein? Hier haben wir häufig gestellte Fragen zum Coronavirus zusammengestellt.
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